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Sölvi Halldórsson: Stillleben mit übereinandergeschlagenen Beinen

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island

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Foto © Ásdís Sól Ágústsdóttir
Sölvi Halldórsson
 
Stillleben mit übereinandergeschlagenen Beinen
 
(Aus: Þegar við vorum hellisbúar / Als wir Höhlenmenschen waren.
Druck: Litlaprent, Reykjavík 2025)
 
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


Stillleben mit übereinandergeschlagenen Beinen

Der Gedanke stellt sich auf die Hinterbeine. Ich sitze.
Stille. Wir trainieren unsere Intelligenz
mit imaginären Aquarellen, Zeit und Händen,
die andere Aufgaben wollen: Wangen quetschen, Haut
vom Finger reißen, sich zu Knüppeln zusammenziehen, einen Nagel
mit einem Zahn verabschieden, die Diskussion mit zwei Fingern
beenden. Der Tag heute ist noch nicht vorbei,
doch wir üben uns darin, gut zum Morgen,
zu unserer Zeit, zu sein, von jetzt an. Stellen Sie sich
einen schmalen Pinsel vor – schmaler! –, trübes Wasser
in einer alten Blechdose, einen Moment oder einen Bleistift,
den man in zwei Hälften bricht und mit Hellhellblau überzieht.


Stillleben mit übereinandergeschlagenen Beinen, Forts.

Tage vergehen. Das Denken hat sich Hosen angezogen, will sich
auf seine Ahnen besinnen. Wir stehen in der Küche
und suchen mit kleinen Fragen, finden alte Witze,
lange und derbe, über die, die verrückt geworden sind,
finden ihre Blazer und allerlei Schweigen, aber nichts Überraschendes,
nichts, was nicht wieder in Mode gekommen ist.
Das Denken will weiter zurück, will Archäologie und haarige Theorien,
gemeinsam erlebte und uralte Zeiten, als wir Höhlenmenschen waren
und vor einem steinernen Fernseher brüllten, mit einer Fernbedienung
aus Stein auf einem Sofa aus Stein. Damals gab es keine Worte
außer Hände, und keiner hat damit angefangen, sich aufzurichten,
Kompromisse zu finden oder Fett anzusetzen. Irgendwo zwitschert etwas.
Oder gurrt. Oder kichert. Doch das Denken will lernen,
Feuer zu machen und sich vor Schlangen in Acht zu nehmen,
vor vierzig zu sterben, mehr Beeren zu essen,
hat mit historischen Dehnübungen begonnen,
wenn es durchs offene Fenster an üblen Nachreden fliegt oder weht.
Es flattert in summenden Bögen durch die Küche.
Wir können nicht sagen, ob es alt ist oder neu. Es versteht das Glas nicht.
Es kollabiert auf der Fensterbank.

Sölvi Halldórsson, geboren 1999, ist ein Dichter aus Akureyri. Sein Debütwerk, das Lang-gedicht Piltar / Jungs, wurde 2018 in der Pastel-Reihe, einer isländischen Buchreihe von verschiedenen Menschen aus der Kreativ-Branche, veröffentlicht. Außerdem ist er mit einem Gedicht in dem dreisprachigen Sammelband Eplaástøðið endurskoðað / Udvidet kartoffel-teori / Kartöflukenningin endurskoðuð (Die Kartoffeltheorie, überarbeitet), der bei Nord-atlantens Brygge in Kopenhagen erschienen ist, vertreten. Þegar við vorum hellisbúar ist sein neuester Gedichtband; für dessen Manuskript ist er mit dem Nýræktarstyrk, einem Newcomer-Preis des Isländischen Literaturzentrums ausgezeichnet worden. Sölvi Hall-dórsson ist Teil des Dichterkollektivs MÚKK und lebt und arbeitet in Reykjavík.

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