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Sjón: nachtarbeit

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Andreas Hutt

sjón: nachtarbeit. Gedichte. Isländisch, deutsch. Übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Nettetal (Elif Verlag) 2024. 123 Seiten. ISBN 978-3-946989-78-3. 20,00 Euro

Am blinden Fleck
sjóns Gedichtband „nachtarbeit“


Dass Dichtung ein Mittel der Erkenntnis zu sein vermag, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Galt es in der Epoche des Barocks noch zu versuchen, das Wesen Gottes durch Umschreibungen, Metaphern und Widersprüche in Worte zu fassen, hat sich die Themenpalette der Dichtung, die sich existenziellen Fragen widmet, naturgemäß im Laufe der Zeit säkular erweitert. Beispielhaft hierfür mag der isländische Dichter sjón sein, dessen Gedichtband „nachtarbeit“ im April dieses Jahres im Elif Verlag erschienen ist. Ein erster oberflächlicher Beleg dafür, dass es dem Dichter tatsächlich mit seinem Schreiben um Erkenntnis geht, vermittelt das den Gedichten vorangestellte Zitat der Künstlerin Leonora Carrington: „Die Aufgabe des rechten Auges ist es, in das Teleskop zu schauen, während das linke in das Mikroskop schaut.“ Scheinbar stellt sjón mit Hilfe dieses Zitates einen Bezug zu wissenschaftlichen Formen der Erkenntnisgewinnung her, da dort mit Teleskop und Mikroskop naturwissenschaftliche Geräte genannt sind. Erst auf den zweiten Blick erschließt sich, dass ein Blick mit dem rechten Auge in ein Teleskop, während man mit dem linken in ein Mikroskop schaut, eine surreale Forderung ist, die zwar zu einer Überblendung zweier Bildbereiche führt, aber keinesfalls zu einem exakt überprüfbaren Erkenntnisgewinn, wie ihn Naturwissenschaften anstreben. Vielmehr scheint sjón mit diesem Zitat sein Haupt-arbeitsmittel bei der Gewinnung lyrischer Erkenntnis benennen zu wollen, nämlich die Engführung unterschiedlicher Bereiche, die im Neben- und Ineinander eine neue Bedeutung generieren.

Der Band beginnt mit einem Kapitel, das mit dem schlichten Titel „Gedichte“ benannt ist. sjón beschreibt hier Alltagssituationen, wie z.B. das Schreien von Wiesenvögeln in der Innenstadt, blühende Espen, einen Nachtflug usw. In diese Darstellung der Realität schleichen sich Brüche, Irritationen oder sie werden überblendet mit dem Mystischen, dem Tod, der Welt der Schatten oder der Träume, um eine Bedeutung herauszuarbeiten, die im Unscharfen bleibt – ähnlich wie ein gleichzeitiger Blick durch ein Tele- und ein Mikroskop nur Unschärfe produzieren kann. Die scheinbar schlichte Sprache, die wenigen rhetorischen Mittel und die referentielle Beschreibung des Alltags unterstreichen die Ernsthaftigkeit des Autors, sein erkenntnistheoretisches Spiel voranzutreiben. Es geht ihm nicht darum, das, was er sagen möchte, unter sprachlichem Ballast zu verstecken. Immer wieder arbeitet sjón mit einer Verfahrensweise, die an Collagen erinnert. Ein Gedicht beginnt auf einer Seite, indem ein Thema etabliert wird. Auf der nächsten Seite wird dieses Gedicht – um einen Aspekt erweitert oder gebrochen – fortgeführt, um eventuell auf einer dritten Seite seinen Abschluss zu finden.  

ein frauenkopf

dann neigt sie den kopf
in den schatten und spricht:

wenn du denkst dass ich dir ähnele
dann kennst du mich nicht
wenn du mich nicht kennst
bin ich dir ähnlicher denn je

wer bin ich?

****

damit du das rätsel lösen kannst
drei schlüssel zu meinem denken:

der duft eines rostroten seils
meerblick auf einem foto
der flügelschlag einer schneeeule

In den beiden nächsten Kapiteln werden die Verfahrensweisen der Überblendung und der Collage mit Hilfe von Prosagedichten weiter vorangetrieben. So machtt sjón in „Eine Statistik der Poesie“ die Zeiteinheit tausend Jahre dichterisch erfahrbar, indem er die Jahre mit den Federn eines Singvogels vergleicht, während er in „ Aus dem Trancemuseum“ die fiktive Ausstellung einer Gesangstrommel, eines Augenlides und eines Wandteppichs durchschreitet. Dabei wird jeder der genannten Gegenstände daraufhin abgeklopft, inwiefern er eine vermittelnde Funktion zwischen der Innen- und der Außenwelt eines Menschen einnehmen kann. So vermag das Augenlid z.B. sowohl nach innen in eine Person hineinzuschauen als auch den Körper nach außen zu begrenzen, während die Gesangstrommel das Abtauchen aus der Wirklichkeit in innere Phantasieräume ermöglicht.  

Das vorletzte Kapitel des Bandes „Fünf Übersetzungen aus der Literatur der Bäume“ enthält fünf Gedichte, die anlässlich einer Ausstellung des isländischen Künstlers Gudjón Ketilsson entstanden sind und die aus blau colorierten Ästen entwickelte Schrift Ketilssons in Poesie übertragen möchten, während die Gedichte im abschließenden Kapitel „Fabeln“ weniger alltagsbezogen und narrativer werden, wenn sie z.B. vom Besuch einer seltsamen Frau oder eines Schattenwesens in einer Stadt erzählen.

der kopf, vom körper getrennt
die toten kommen niemandem zu hilfe
ein halber körper, ein festverwurzelter horizont, ein kind
wo wir lebten, wächst wenig von großem, unsere kinder schlafen im dreck
ein unerwarteter gast erscheint, bleibt da für lange zeit
westwind, abgetragene erdschichten, anstrengende tage
ein körper sucht einen neuen kopf

Die Qualität von sjóns Texten verbirgt sich oft in einem sprachlichen Detail – einem Wort, einem Satz, einen Vers, der dem Gedicht eine größere Tiefe verleiht. Je länger man über einzelne Passagen nachdenkt, desto mehr entziehen sie sich einer scheinbaren Einfachheit der Darstellung. Ein wenig schade ist, dass der Verlag dem Band einen kurzen einführenden Text voranstellt, der bereits erste Interpretationsansätze enthält. Die Gedichte sjóns sind stark und zugänglich genug, um keiner Erläuterung zu bedürfen.


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