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Sjón: bewegliche berge

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Timo Brandt

Von Schatten, Schwund. Ins Verschwinden hineinpochen


„und entweder ist der schlafanzug gestreift oder die schatten der eisenstäbe des tores fallen auf den weißen baumwollstoff“

Sjón ist in seiner Heimat Island ein sehr bekannter Autor und war immerhin für einen Songtext schon einmal für einen Oscar nominiert. Die Romane („Schattenfuchs“ & „Der Junge, den es nicht gab“), die ich bisher von ihm gelesen hatte, operierten mit dem Rätselhaften und Entzogenen, versteckten dabei eine Unbändigkeit in ihren Motiven, eine seltsam codierte Wucht, die mir nach wie vor unwirklich und zwingend zugleich erscheint, mich auf besondere und elegante Weise fesselte.

Dieser Gedichtband nun schließt an diese Eindrücke an, insofern zumindest, dass auch hier das Rätselhafte und das Diffuse eine wichtige Rolle spielen. Auch scheint in „bewegliche berge“ ebenfalls hinter manchen schlanken Zeilen eine umfassende Wucht zu liegen, die vielleicht nur deshalb nicht direkt zu ersehen ist, weil man sich beim Lesen des Satzes schon, ohne es zu bemerken, in ihrem Sog befindet – das Unscheinbare entpuppt sich als Kernstück einer bereits betretenen Tiefe kosmischen oder mythologischen Ausmaßes.

„schwarze reiskörner
wir essen sie nicht

wir pflanzen sie
in die gehörgänge fremder“
         
Gerade deshalb, wegen dieser großen Schatten und des Changierens der Dimensionen, kann man sich in diesem schmalen Band schnell verlaufen. Am Wegrand warten Traumprotokolle, kleine Arrangements und Stimmungsbilder, fein und unaufgeregt, deren suggestive Energie in jedes nachfolgende Gedicht fließt, dort beigesteuert wird und einer schlichten Begegnung mit den Worten den Boden entzieht.

Hinzu kommen noch einige, das Gedicht und das Schreiben betreffende lyrische Reflektionen, die wiederum eine zusätzliche Ebene offenbaren. Diese Metatexte wirken wie viele andere eher unschuldig, fast spielerisch, spiegeln aber letztendlich mit ihren Überlegungen die Bemühungen anderer Gedichte, lesen sich wie Kommentare oder Einschätzungen und führen zu einer Rückkopplung in der Transzendenz.

„in gedichten kann es vorkommen,
dass der Nebel, der sich hebt
den berg gleich mitnimmt“

„in der stadt des gedichts
verabschiedet jener der geht
jene die zurückbleiben
mit den worten:

gute reise!

nach dem so gesprochenen
ist er außer sichtweite“

„bewegliche berge“ ist ein Kleinod mit besonderer, zwischen düster und hell, schummrig und warm wechselnder Strahlkraft. Mir kommt vor, als ob ein zentrales Element das Verschwundene (oder der Schwund) ist, das jene schmalen Texte hinterlassen hat, die nun davon zeugen – derweil sie gleichsam aufzeigen, wie riesig dieser Schwund, das Verschwundene ist und welche gravitären Kräfte an den Rändern der Träume, im Saum der Natur und der einfachen Beobachtung, im Rahmen des Kosmos lauern.  

„mit geräuschlosem schwung
ein gruß von der milchstraße“

Wegen all dieser Aspekte ist es ein Band, mit dem man sich lange beschäftigen kann. Er bietet eine Oberfläche, die sich niemals legt, aber auch niemals Unruhe ausstrahlt, sowie Projektionsfläche und auszulotende Tiefe.
    Ein Spiegelkabinett, das sagt: da bist du, niemand anders. Und doch dreht man sich an der Schwelle vieler Gedichte um, schaut in die Umgebung, sucht nach Spuren …

„im sommerhaus von garcía lorca sitze ich am schreibtisch des dichters
spüre seinen geist meinen
weitgereisten körper einhüllen
wie mondschein der den schlag des herzens beschleunigt“


Sjón: bewegliche berge. Gedichte. Übersetzt von Betty Wahl und Tina Flecken. Berlin (Edition Rugerup) 2018. 80 Seiten. 14,90 Euro.
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