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Sinn und Form #5/24 - Gewalt Erinnerung Sprache

Verlage, Zeitschriften


Ulrich Schäfer-Newiger

Gewalt Erinnerung Sprache

Sinn und Form, Heft 5/2024. Postfach 21 02 50, 10502 Berlin, 138 Seiten, 11 Euro.

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Sinn und Form“ fallen zwei Beiträge besonders auf, die sich beschäftigen mit, sehr vereinfacht formuliert, Gefangensein und Verhör und die Erinnerung daran. Der eine, mit Vor- und Nachwort, umfasst 34 Seiten und bildet gleichsam den Schwerpunkt des Heftes. Er stammt von Thomas Klein und trägt den bürokratisch anmutenden Titel „Gedächtnisprotokoll einer Inhaftnahme“. Mit dem anderen, kurzen, vierseitigen Text beginnt das Heft. Er ist verfasst von Christian Lehnert und trägt den eher poetischen Titel „Der Ungrund“. Zu diesen beiden Texten passt ein dritter, der in der ständigen Rubrik Umschau mit dem Titel „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist und Diktator“ abgedruckt ist und von dem Historiker und Publizisten Ilko-Sascha Kowalczuk stammt. Wobei dessen Titel insofern irreführend ist, als der Text nicht von Walter Ulbricht handelt, sondern angesichts der Biographie, die der Autor über diesen geschrieben hat, u.a. von der Fragwürdigkeit angeblich objektiver Rekonstruktionen und Erzählungen einerseits, und der Erinnerung andererseits als Quelle fremder und eigener Biographien. Ich stehe Erinnerungen, so sehr ich sie mag, ziemlich skeptisch gegenüber, schreibt er. Und: Die Stringenz, die wir Lebenserzählungen anderer und womöglich unserer eigenen Biographie gern andichten, gibt es nicht. …. Überhaupt erhält unser Leben erst durch unsere Erzählungen jene Logik und Stringenz, die ihm eigentlich fehlt. Dazu fällt dem Verfasser noch eine die Sache weitertreibende Äußerung von Augustinus ein: Ich bin mein Erinnern.

Thomas Klein, promovierter Mathematiker, geboren 1948 in Berlin, war von September 1979 bis Ende 1980 in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert, danach erhielt er Berufsverbot. Sein als „Gedächtnisprotokoll“ bezeichneter Text umfasst die erste Woche der Inhaftierung, also die Verhaftung selbst, den Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis, die ersten Verhöre. Dabei sind nur die ersten drei Tage genauer beschrieben, danach nur noch Stichworte etwa: Dienstag. Vormittags Freistunde, dann Vernehmung, ebenso Nachmittag. Mittwoch. „Machen sie die Zelle sauber.“  Klein, dessen Text Anfang 1981, direkt nach der Haftentlassung geschrieben, aber erst jetzt veröffentlicht wurde, will ihn gemäß seiner erklärenden, die weiteren persönlichen Umstände der Textentstehung und -veröffentlichung beschreibenden Vorbemerkung, n i c h t als Zeitzeugendokument verstanden wissen. Er habe mit der Veröffentlichung gezögert, weil er fürchtete, die Dämonisierung des MfS* zu fördern. Sein alter Text in seiner Konzentration auf die persönliche Erfahrung lenke von der für ihn als Zeithistoriker notwendigen Darstellung der Funktionalität des Terrors eher ab. Der Autor ist demnach womöglich der Ansicht, eine wie auch immer geartete Funktionalität des Terrors könne jenseits persönlicher Erfahrung verstanden werden.

Der Autor ahnt demnach, dass seine Art der Darstellung des Erinnerten, nämlich möglichst objektiv, chronologisch, mit sachlicher Sprache, (aber eben nicht völlig) emotionslos, ohne Bewertungen, ohne Urteile, nur mit wenigen kargen Reflexionen versehen, gerade dadurch einen eigentümlich bedrückenden, beklemmenden, ja kafkaesken Charakter gewinnt. Dazu tragen nicht nur lapidare Sätze bei wie: Ich bin mit mir allein in einem winzigen Blechkasten, genau den Körpermaßen eines Durchschnittserwachsenen angepasst, oder Eine Fläche von drei mal zehn Metern ist von allen Seiten durch meterhohe rauhverputzte Mauerwände umstellt und nach oben durch starken Maschendraht verschlossen, durch den man den Himmel sieht, sondern auch knappe Wiedergaben eigener Fantasien: Irgendwie verdichtet sich die Vorstellung, es geht unter die Erde und wir werden in irgendeiner Katakombe verstaut. Dabei gibt der Autor die oftmals absurden aber auch Gewaltbereitschaft und zehnjährige Gefängnisstrafe signalisierenden Ansprachen und Verhörfragen der Verhörbeamten wörtlich wieder, während er seine eigenen, wenigen Einlassungen nur indirekt wiedergibt, als erinnerte er sich daran nicht mehr im Einzelnen. Der Effekt aber ist: Das erzählende Subjekt tritt auf diese Weise weiter in den Hintergrund, die Unverfügbarkeit über die Situation, über den Gesprächsverlauf, über die Verhörmethoden, über die verwendete, herrisch-fragende Sprache, tritt überdeutlich hervor und verstärkt zugleich die scheinbare Objektivität der Schilderung (wobei natürlich auch andere Motive für diese Darstellungsform denkbar sind).

Durch all diese sprachlichen Eigenarten erhält das Erzählte jedenfalls eine Struktur und Stringenz, die den Text zu einem literarischen Text machen, ob der Autor das beabsichtigte oder nicht. Dämonisiert wird durch diesen Text nichts. Er kann nur allen Lesern empfohlen werden, die bereit sind, sich über das Unterdrückungssystem der DDR keine Illusionen zu machen.

Christian Lehnerts Text hingegen gibt sich von vorneherein als subjektive, persönliche, irritierende, noch in der Gegenwart wirkende, literarisch erzählte Erinnerung zu erkennen. Die ersten Sätze lauten: Die Erinnerung an jene Stunden, denn vermutlich waren es nur Stunden, konnte ich nie in eine zusammenhängende Lebenserinnerung einfügen. Sie überfielen mich, nicht als Schatten von etwas Gewesenem, sondern als ausweglose Gegenwart – ein pulsendes Loch in der Zeit. Und etwas weiter: Nie verlor ich den Verdacht, dass es sich um eine Erfindung handeln könnte. Der Erzähler erinnert sich in der Gegenwart rückblickend an dieses Ereignis in der Vergangenheit (Was war damals? Körniger Beton. … War da etwas oder nichts? Nur ich? … Ich kratzte mir am groben Gestein die Nägel rissig.) Und er hadert mit dieser Erinnerung, ist sich ihrer nicht sicher. Das Gefühl, in mir eine Erinnerung zu tragen, die ich nicht besaß, die nicht zu mir gehörte, mich aber bestimmte …. war erneut bestürzend. Die Fragwürdigkeit der Erinnerung als Quelle für die Rekonstruktion eigener Erfahrung, von der Kowalczuk schreibt, ist hier wesentlicher Bestandteil des Textes. Der Erzähler erinnert sich an eine Verhörsituation im Februar 1989, nachdem er als Bausoldat der NVA in den Reif eines Rohres mit dem Handschuh „Keine Macht für niemand“ geschrieben hatte und er denunziert worden war. Auch hier: Ungewissheit über die Zukunft, eingesperrt in einem Loch, einer Betonkammer, in der es keine erkennbare Tür gab. Kein Licht. Und keine erkennbare Zeit. Und keine erkennbare Realität. Was war überhaupt wirklich? Was gab es? Erbrechen vor Angst. Und in diesem Moment – Christian Lehnert ist bekanntlich ein christlicher Autor – die Erlösung: da war es plötzlich da: das Angeschautwerden, wie ich es nannte. Aus der Tiefe der Kammer, aus dem grundlosen Schwarz drang ein Blick und das Dunkel sah mich, und indem es mich sah, war ich da. Er fühlt sich plötzlich als eine unberührbare, unverletzliche Wesenheit in diesem Loch, weil ich angesehen wurde. Und der Autor resümiert, er bestehe gar nicht in sich selbst, sondern in dem fremden Blick. Diese Sätze, gleichsam als Ergebnis der Erinnerung des Erzählers, müssen wohl so stehen bleiben. Sie sind jedenfalls nicht weiter hinterfragbar.

Es handelt sich um zwei Darstellungen des Gefangenseins, wie sie einerseits unterschiedlicher nicht sein können. Die aber andererseits gemeinsam haben, dass ihre Lektüre jeweils selbst zu einer beeindruckend-wirkungsvollen (Lebens)Erfahrung wird, der man sich nicht entziehen kann.


* Ministerium für Staatssicherheit, Stasi.


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