Sinn und Form, Heft 5/2021 + Neue Rundschau, Heft 2/2021
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Sinn
und Form, Heft 5/2021 + Neue Rundschau, Heft 2/2021
Adorno, Enzensberger,
Hilbig. Zur Wirkungskraft ihrer Briefe
Es kommt
nicht alle Tage vor, dass eine Literaturzeitschrift einen epochalen Augenblick
in der deutschen Geistesgeschichte dokumentieren kann. Der jüngsten Ausgabe von
„Sinn und Form“ (Heft 5/2021) ist dies in bemerkenswerter Weise gelungen. Hier
wird erstmals der Briefwechsel zweier Schlüsselfiguren der deutschen
Intelligenz der Nachkriegszeit veröffentlicht, akribisch kommentiert von dem
Literaturwissenschaftler Jan Bürger. Am 31. Oktober 1955 setzt nämlich die
Korrespondenz zwischen dem damals 25jährigen Rundfunkredakteur Hans Magnus
Enzensberger und dem Philosophen Theodor W. Adorno ein, ein zunächst rein
geschäftsmäßiger Austausch, der sich dann aber elementaren Fragen zuwandte und
insgesamt elf Jahre bestehen blieb, in denen sich die politische und geistige Physiognomie
der Bundesrepublik entscheidend veränderte. Der Philosoph hatte mit der
„Dialektik der Aufklärung“ (mit Max Horkheimer) 1947 das Gründungsdokument der
Kritischen Theorie verfasst und strebte allmählich dem Zenit seiner öffentlichen
Wirksamkeit zu, die dann in den Jahren der Studentenrevolte ihren Höhepunkt
erreichte. Der junge Enzensberger arbeitete damals als Assistent von Alfred
Andersch im Süddeutschen Rundfunk, war als Poet aber nur im kleinen
Dichterkreis um den genialischen Einzelgänger Rainer Maria Gerhardt (1927-1954)
bekannt. Dort war Enzensberger 1952 aufgetaucht, ein selbstbewusster junger
Mann mit gepflegtem Cäsarenhaarschnitt und elegantem blauen Pullover, der in
der Wohnung des Benn-Archivars Fritz Werner erstmals Gedichte vortrug, die fünf
Jahre später in sein spektakuläres Debüt „verteidigung der wölfe“ aufgenommen
wurden. Alfred Andersch hatte das Talent des hochbegabten jungen Mannes aus dem
Allgäu rasch erkannt und ihn als Assistenten für seine Arbeit im Süddeutschen
Rundfunk angeworben, damals eine wichtige Anlaufstelle für ambitionierte
deutsche Schriftsteller.
Enzensberger
hatte bereits bei seiner ersten Kontaktaufnahme mit dem Philosophen ein großes
Projekt vor Augen: Er wollte Adorno für ein Radiogespräch mit Gottfried Benn
gewinnen, ein Gespräch, das sicher Literaturgeschichte geschrieben hätte, aber
leider nie zustande kam. Bereits 1956 schickte Enzensberger per Eilboten einen
Brief an Adorno, nachdem ihn die Lektüre der „Dialektik der Aufklärung“ (die er
sich auf Umwegen besorgt hatte, da das Buch damals im regulären westdeutschen
Buchhandel noch gar nicht zu bekommen war) stark aufgewühlt hatte, vor allem
das Kapitel über die „Kulturindustrie“, von dem er sich eine Fortsetzung
erhoffte. Einige Jahre später lieferte Enzensberger selbst eine wirkmächtige
Antwort auf seine Bitte an Adorno, als er nämlich 1962 seine Essaysammlung
„Einzelheiten“ publizierte, in der er mit dem Begriff „Bewusstseinsindustrie“
an die von Adorno lancierte Kategorie „Kulturindustrie“ anknüpfte und sie
zugleich aktualisierte. Der Briefwechsel bietet eine faszinierende Lektüre,
denn es ist zu sehen, wie Adorno sofort die intellektuelle Souveränität des
unbekannten jungen Mannes erkannte und sehr daran interessiert war, den
Austausch mit dem bald kometenhaft aufsteigenden Enzensberger fortzusetzen. Als
dann 1962 Enzensbergers Essayband Einzelheiten erschien, äußerte Adorno
umgehend seine „begeisterte Zustimmung“ zu diesem Werk und lud den mittlerweile
in Norwegen lebenden Dichter ein, im Institut für Sozialforschung in Frankfurt
einen Vortrag über „Aspekte der Kulturindustrie“ zu halten. Drei Jahre später gründet
Enzensberger das Kursbuch und will den Philosophen zu einer
grundsätzlichen Kritik der hasenfüßig gewordenen Sozialdemokratie animieren –
nämlich zu einer grundsätzlichen Kritik des Godesberger Programms der SPD.
Bald befallen Adorno Zweifel, ob er diesen Beitrag für das Kursbuch
wirklich schreiben kann: „Ich weiß aber nicht“ schreibt er am 18.4.1966, „ob
gerade jetzt der beste Zeitpunkt zu einer Abrechnung mit dem SPD-Kurs ist. Dazu
ist die Gefahr des Neonazismus in Deutschland viel zu akut …Wichtiger jedoch
scheint mir, im Augenblick alles zu vermeiden, was, sei´s noch so indirekt, zu
einer Stärkung des Rechtsradikalismus beitragen könnte.“ Ein Statement, das
heute, 55 Jahre nach seiner Abfassung, uneingeschränkt wiederholt werden
könnte.
Neben dem
Adorno-Enzensberger-Briefwechsel ist noch eine weitere Korrespondenz in der
aktuellen „Sinn und Form“-Ausgabe zu bewundern – die Briefe und Postkarten, die
sich die dänische Weltpoetin Inger Christensen und Sarah Kirsch zwischen 1986
und 2001 geschrieben haben. Die Literaturwissenschaftlerin Carola Opitz-Wiemers
hat sie gesammelt. In ihrem Kommentar verweist sie darauf, dass sich der
Austausch der beiden Poetinnen oft über die naturmagische Aufladung von Landschaften
vollzog, in denen man von der tröstlichen Gewissheit getragen wird, selbst „ein
Stückchen Natur in dem Ganzen zu sein“. In einer Betrachtung zu Sarah Kirschs
Gedicht „Fluchtpunkt“ merkt Christensen an, wie essentiell notwendig
Beo-bachtungsgeduld sei, um Expeditionen ins Innere des Menschen antreten zu
können: „Einer der Kernpunkte des Gedichts ist der, daß wir nicht mehr die
Aufmerksamkeit für die Einzelheiten haben, sondern sie als eine unnötige
Verzögerung betrachten und daß genau dieser Mangel an Aufmerksamkeit für
zufällige Dinge in der Welt uns davon abhält, uns selbst zu erforschen.“
Einen
weiteren Höhepunkt einer sehr speziellen Art von Briefkultur hält das aktuelle
Sonderheft der Neuen Rundschau (Heft 2/2021) für uns bereit. Hier präsentiert
Michael Opitz den kompletten Briefwechsel des grandiosen Wolfgang Hilbig mit
den Behörden der DDR. Der umfangreiche Kommentar rekonstruiert den langen Weg
eines nie zur Unterwerfung bereiten Schriftstellers durch ein Labyrinth aus
gesetzlichen Regelungen und latenten und offenen Repressions-maßnahmen, den
Hilbig mit scheinbar nie erlöschender Widerstandsbereitschaft zu gehen bereit
war. Über fünfzehn Jahre hatte der 1941 in Meuselwitz geborene Hilbig, der
viele Jahre als Heizer gearbeitet hatte, vergeblich versucht, seine Gedichte in
DDR-Verlagen unterzubringen. Als er nach einer von Karl Corino gestalteten
Sendung im Hessischen Rundfunk von dem S. Fischer-Lektor Thomas Beckermann das
Angebot erhielt, seine Gedichte bei S. Fischer zu veröffent-lichen, ergriff der
„Hölderlin aus Sachsen“ seine Chance und begann eine komplizierte Korrespondenz
mit dem Büro für Urheberrechte und mit dem damals amtierenden Kulturminister
Klaus Höpcke. Hilbig trotzte allen Widerständen und schaffte es, trotz der
Überwachung durch die DDR-Staatssicherheit, trotz einer kurzzeitigen Verhaftung
und trotz einer empfindlichen Geldstrafe wegen illegaler Publikation seines
Bandes seine Veröffentlichung bei S. Fischer durchzusetzen – und mit dem
Gedichtband „abwesenheit“ war 1979 einer der größten Schrift-steller des späten
20. Jahrhunderts in Deutschland angekommen. Seine Furchtlosigkeit im Umgang mit
den Behörden ist vorbildlich – und seine Briefe sind faszinierende
Bekenntnisse: „Sehr geehrter Herr Minister!“, schreibt Hilbig im Februar 1981
an Klaus Höpcke: „Die völlige Abwesenheit von Kritik, die Verachtung jeder
künstlerischen Äußerung, die ihre Existenz außerhalb der Nutzungsdiktatur, des
Unterwürfigkeitsdenkens prostituierend wechselnder Ideologieansprüche zu
stellen gewillt ist, die einer solchen Verachtung immanenten Möglichkeiten,
Kunst zu vernichten, die durch keine Proklamation zu bannen sind – und in deren
Bewußtsein ich Ihnen, geehrter Herr Minister, schreibe – der Unwille zu einem
Dialog schließlich, dessen Abfälle, verbale Metastasen sich in gegenseitig
bedingter Illegalität winden, hat in diesem Lande, in der DDR, zu einem
Feindbild von der Poesie geführt, das ich für beispiellos halte.“
Sinn
und Form, Heft 5/2021, 140 Seiten, 11 Euro
Neue
Rundschau, Heft 2/2021: Wolfgang Hilbig – „Ich unterwerfe mich nicht der
Zenrus“. Hrsg. u. kommentiert von Michael Opitz. S. Fischer Verlag, 208 Seiten,
17 Euro