Sinn und Form, Heft 5 / 2020
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Sinn
und Form, Heft 5 /2020
»Sei
nicht trauriger als nötig«
Als im März dieses Jahres, kurz vor dem Lockdown, Lutz Seilers großer Geschichts- und Liebesroman „Stern 111“ erschien, wurde in der sehr berechtigten Begeisterung über dieses Buch ein zentrales Element dieses elegischen Meisterwerks übersehen: die innige, fast religiöse Metaphysik, die den Erzähler mit seinen Werkzeugen und den haptisch greifbaren Dingen seines Alltags verbindet. Carl Bischoff, der Held des Romans, agiert als Mystiker der handwerklichen Tätigkeit: sei es als Techniker oder Lenker der geliebten „Shiguli“-Limousine oder als Maurer bei der Einrichtung der Underground-Kneipe „Assel“: „Die Arbeit tat ihm gut, sie war ein direkter, sichtbarer Ausdruck seiner Fähigkeiten, er spürte die Würde, die im richtigen Gebrauch des Werkzeugs lag, und nach und nach erinnerte sich sein Körper an jedes Detail, jeden einzelnen Handgriff.“ Dieses intensive Nahverhältnis zur Materialität der Stoffe und Substanzen manifestiert sich auch in den Gedichten Lutz Seilers, von denen nun einige schöne neue Stücke im aktuellen Heft (5/2020) von Sinn und Form zu lesen sind. Wie in „Stern 111“ und auch in den Gedichten des epochalen Bandes „pech & blende“ (2000) werden hier die Konstellationen der Kindheit im thüringischen Gera aufgerufen: „ich sammelte dinge, als hätten sie inne/ das gebet“. Seilers Helden führen oft eine Doppelexistenz als Dichter und Handwerker. Die Akribie, mit der in den neuen Gedichten das lyrische Ich „die grundredensarten“ und „die sprachgliedmaßen“ einübt, korrespondiert mit der Sorgfalt mit dem Erstellen eines „guten estrichs“. Berückend schön auch die Melodie dieser Gedichte: „ich hab dem vogel stimmen nachgesagt/ in sprachen, die es kaum noch gab./ ich hab dem knochenausschuß vorgetanzt/ ich hatte keinen blassen“.
Die Gedichte Lutz Seilers sind klug integriert in die wieder subtil ausgeklügelte Komposition des Sinn und Form-Heftes. Es beginnt mit drei Texten, die sich mit Rohstoffen und Materien befassen. Neben Seilers Gedichten ist das ein inspirierter Aufsatz der Stuttgarter Dichterin Susanne Stephan zum Verhältnis des Frühromantikers Friedrich von Hardenberg alias Novalis zu den fossilen Brennstoffen seiner Zeit. Als Salinendirektor erkundete Novalis regelmäßig die Kohle- und Salzgruben des beginnenden Anthropozäns. Ein Komplementärtext zu Susanne Stephans schönem Aufsatz über „die Karbonisierung der Welt“ legt der aus Neubrandenburg stammende Lyriker und Kiefernharzsammler Michael B. Nowka vor. In den 1980er Jahren war Nowka als einer von 1500 spezialisierten Forstarbeitern in der DDR mit der sogenannten „Lebendharzgewinnung“ beschäftigt. Dabei wurden Nadelbäume gezielt angeritzt, um daraus Harzbalsam zu gewinnen, woraus Produkte wie Schuhcreme oder auch Raketentreibstoff hergestellt wurden. Sinn und Form präsentiert nun Tagebuchaufzeichnungen Nowkas aus dem Sommer 1989, ein starkes Exempel für eine politische Form des „nature writing“. Die Aufzeichnungen des Waldgängers Nowka stehen den schwermütigen Tagebuchnotaten des Städtereisenden Stephan Wackwitz gegenüber, die dieser in den Tagen der Wende 1989/90 angefertigt hat. Es ist ein Dokument linker Melancholie. Von Oktober bis Dezember 1989 scheint Wackwitz zusammen mit seinen einstigen DKP-Genossen mit der Trauerarbeit über den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus beschäftigt. Aufregend und von präziser Schärfe sind dann seine Beobachtungen des charismatischen Redners Daniel Cohn-Bendit und die von immer stärkeren Selbstzweifeln durchwirkten Diagnosen zur Lage der politischen Utopie. Als poetische Maxime dient Wackwitz dabei eine Sentenz des Schriftstellers und Malers John Berger: „Don´t be sadder than necessary.“ Hochinteressant sind Wackwitz´ Aufzeichnungen auch deshalb, weil sie sich bei näherem Hinsehen als eine Art Gegendarstellung zu den Tagebuchnotaten seines verstorbenen Freundes Michael Rutschky lesen lassen, die dieser zu den Jahren 1989/90 vorgelegt hat („Mitgeschrieben“, 2015). Rutschky, der gleich in mehreren Passagen des Wackwitz-Tagebuchs auftaucht, hat sich in seinen eigenen finster-aggressiven Tagebüchern („Gegen Ende“, 2019) nicht mehr in der von ihm perfektionierten Kunst der „soziologischen Feinmalerei“ ausprobiert, sondern oft nur noch boshafte, verletzende Bemerkungen gegenüber seinen Freunden ausgeteilt.
Den aufregenden Höhepunkt des Sinn und Form-Heftes markiert aber ein kleines Dossier zur Schriftstellerin Irmgard Keun (1905-1982). Michael Bienert kommentiert hier die Überlebensstrategien Keuns, die in den Anfangsjahren der NS-Diktatur in Konflikt mit dem Regime geriet. Ihre ersten Romane wurden verboten, die Aufnahme in die Reichsschrift-tumskammer wurde ihr verweigert. In dieser Situation erreichte sie im Sommer 1935 ein Brief des linken Schriftstellers Franz Hammer, der nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen worden war, sich einige Jahre als Gelegenheitsarbeiter durchschlug und dann wieder vorsichtig zu publizieren begann. Die bislang unbekannten Briefe Keuns an Franz Hammer dokumentieren die prekäre Lage einer Autorin, die es riskierte, ohne staatliche Genehmigung kleine Texte in Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen. Nach einer weiteren Ablehnung ihres Antrags auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer unternahm Keun einen Suizidversuch; im Mai 1936 emigrierte sie dann endlich ins belgische Ostende, wo sie ihren NS-kritischen Roman „Nach Mitternacht“ veröffentlichen konnte. Nach dem Einmarsch der Nazis in die Niederlande kehrte Keun heimlich nach Deutschland zurück; sie überlebte den Terror des Regimes. Als sie 1970 noch einmal ein Brief Franz Hammers erreichte, der mittlerweile in der DDR als erfolgreicher Verlagslektor arbeitete, blieb er ohne Antwort. Irmgard Keun war in Einsamkeit versunken, sie lebte mittellos und alkoholkrank in einer Bonner Klinik. Ein paar Jahre vor ihrem Tod 1982 erlebte sie dank einiger engagierter Autorinnen wie Ursula Krechel noch einmal ein Comeback.
Sinn und Form, Heft 5/2020, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin, 140 Seiten,
11 Euro.