Sinn und Form, Heft 1/2022
Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats
Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Sinn und Form, Heft 1/2022
Jürgen Becker und die
poetische Architektur der Erinnerung

Am 25.
September 2021 ist die Malerin Rango Bohne gestorben, ein Tod, der einen über
fünf Jahrzehnte geführten Dialog zwischen Poesie und Bildender Kunst jäh beendete.
Denn Rango Bohne war seit 1965 mit dem Dichter Jürgen Becker verheiratet, von
1982 („Fenster und Stimmen“) bis ins Jahr 2012 („Scheunen im Gelände“) sind
fünf gemeinsame Bücher des Künstlerpaars entstanden, in denen Becker seine
poetische Architektur der Erinnerung und Landschaftswahrnehmung mit den Bildern
und Collagen Rango Bohnes verknüpfte. Die literarische Öffentlichkeit hat vom
Tod der Malerin wohl erst durch eine Widmung in Jürgen Beckers neuen „Journalgedichten“
erfahren, die soeben auszugsweise im aktuellen Heft von Sinn und Form
(Heft 1/2022) erschienen sind. „Fortsetzend das Selbstgespräch und wie
es hervorkommt/ aus dem Schatten des früher Gesagten“: Mit diesen beiden Versen
setzen Beckers „Journalgedichte“ ein, in denen er sein bewährtes poetisches
Verfahren der diskreten Synchro-nisierung von Erinnerung, Imagination und
Wahrnehmungs-Einzelheiten weiter verfeinert. Auch die neuen „Journalgedichte“
öffnen nun Räume von Erinnerungen, die mit Imaginationen und aktuellen
Gegenwartserfahrungen korrespondieren. „Das Gedächtnis“, so hat Becker in
seinem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ (1999) einmal geschrieben,
„lebt ja erst auf, wenn es Wörter und Sätze gibt, die es aus seinem Schlaf
rufen.“ In den „Journalgedichten“ sind es Alltags-Beobachtungen, etwa von
Passanten, die – es sind die Tage der Corona-Krise – Tüten mit
Toilettenpapierrollen schleppen, oder eine wiedergefundene Mappe mit
Zeichnungen aus der Ukraine, die das Gedächtnis aktivieren. Und sofort kehren
die Bilder der Kindheit wieder zurück, die Erinnerungen an den Luftkrieg und an
jene Tage, an denen Jürgen Becker als Junge verwickelt wird in „Ereignisse mit
unbestimmtem Ausgang“. An einer Stelle notiert der Autor, was seine Literatur
immer wieder festzuhalten versucht: „Nicht mehr als einzelne Sätze aus der
Geschichte einer Flucht.“ Aus einem rechtsrheinischen Kölner Vorort, in dem der
1932 geborene Becker aufwuchs, verschlug es seine Familie nach Erfurt. Dort
ließen sich seine Eltern 1943 scheiden, als er elf Jahre alt war. Das Scheidungskind wollte bei seiner Mutter
bleiben, doch das Gericht entschied, dass er zum Vater kam. Drei Jahre später
nahm sich Beckers Mutter das Leben, sie ertränkte sich in einem See. 1947
kehrte Becker ins Rheinland zurück. In seiner Kölner Kindheit weckte die
Begegnung mit seinem Onkel Erich Schuchardt, einem Schüler von Paul Klee, die
Leidenschaft für die Bildende Kunst und vor allem für die Landschaftsmalerei.
Die
topografische Position, von dem aus sein schreibendes Ich auf die Welt blickt
und erste Versuche in poetische Landschaftsmalerei unternimmt, taucht bereits
in seinem Prosadebüt „Felder“ von 1964 auf: Es ist ein altes Fachwerkhaus im
Bergischen Land in der Nähe der Ortschaft Odenthal, das dem Vater Rango Bohnes
gehörte. Es ist seit 1964 zu einem wichtigen Navigationspunkt von Beckers
Dichtung geworden. Von dort schaut er mit seinem lyrischen „Kamera-Blick“ in
seine Sehnsuchtslandschaft, die Kölner Bucht, dort setzt er auch heute noch
sein poetisches „Selbstgespräch“ fort.
Mit dem
„Selbstgespräch“ Jürgen Beckers korrespondiert in Sinn und Form sehr schön
eine aus dem Nachlass publizierte Confessio Christoph Meckels, die 1968
geschrieben wurde und vehement Position bezieht gegen die „Kunstfeindlichkeit“
der linken Intellektuellen in der Zeit der Studentenrevolte. Meckel versteht
das Gedicht nicht als „Gebrauchsgegenstand“, sondern als eine Sprechweise, die
der „Abgründigkeit menschlicher Existenz“ am nächsten ist. Und entgegen der
„Gesprächigkeit“ der Pseudo-Aufklärer arbeitet das Gedicht auch mit
„Unausgesprochenem“: „Wer als Verfasser von Gedichten über Dichtung spricht,
darf oder muß voraussetzen, daß das Schweigen zwischen seinen Wörtern vernommen
wird. Ich bin außerstande auf Schweigen zu verzichten.“
Im Zentrum
von Sinn und Form steht indes ein kleines Dossier über den Schriftsteller
Franz Fühmann (1922-1984), der wie kein zweiter Autor seiner Generation die
eigene politische Verblendung durch die totalitären Ideologien des
Nationalsozialismus und des Stalinismus thematisiert hat. An den Zettelkästen
Fühmanns, so zeigt Isabel Fargo Cole, lässt sich nachvollziehen, wie sich
dieser Autor mit großer sprachkritischer Intensität an den Dogmen einer
linksautoritären Kulturpolitik im SED-Staat abgearbeitet hat und sich allen
Instrumenta-lisierungsversuchen entzog. Fühmann ging in seiner Selbstkritik so
weit, sich in Erzählungen wie „Das Judenauto“ (1962) oder seinem großen
Trakl-Essay „Vor Feuerschlünden“ (1982, drei Jahre später in der Bundesrepublik
unter dem Titel „Der Sturz des Engels“ veröffentlicht,) als potentiellen
Vollstrecker mörderischer Ideologien zu porträtieren.
Wenn
Fühmann einst „das mythische Element“ als das entscheidende Ingrediens jeder
großen, überzeitlichen Literatur beschrieb, so vermag ein Autor wie der
mittlerweile 82jährige Volker Braun genau dieses Spiel mit dem Mythos immer
wieder in überwältigende Konstellationen zu fassen. Das jüngste Beispiel dafür ist
im neuen Sinn und Form-Heft zu lesen: die „Luf-Passion“, ein aus Briefen
im wilhelminischen Kaiserreich, poetischen Fremdtexten und ethnologischen
Schriften collagiertes Poem, das auf die Geschichte des prominenten Luf-Bootes
im Berliner Humboldt-Forum verweist, dessen Herkunft als Raubgut der Historiker
Götz Aly erforscht hat. Volker Brauns Gedicht ist eine starke Parabel auf die
Verwüstungen, die der Kolonialismus in Afrika und Europa angerichtet hat.
Einen
großartigen Fund aus der Frühzeit des rumänisch-französischen Dramatikers
Eugène Ionesco (1909-1994) präsentiert der Dichter und Übersetzer Alexandru
Bulucz. Unter seinem rumänischen Namen Eugen Iunesco hatte der Dramatiker 1922
ein schmales lyrisches Frühwerk publiziert, die „Elegien für kleine Wesen“. In
einem autobiografischen Rückblick bezeichnete er sie später, 1969, als
„jämmerliche“ Gebilde und „sehr schlechte Gedichte“. Bulucz kann nun zeigen,
dass diese angeblich „jämmerlichen“ Texte sehr viel mit der Puppen-Obsession
des Autors zu tun haben, die mit traumatischen Kindheitserfahrungen verbunden
ist. In den „Elegien für kleine Wesen“ sind die Puppenfiguren schockhaft an
Bilder der Zerstörung gekoppelt: „Als das Mädchen noch bei uns war, sah es
Engel./ Doch es gibt keine Engel!/ Wer sieht schon die Engel!// Oh, die
Wachspuppe! / Der Pope schüttelte den Kopf, / der kleine schwarze Hund bellte
und bellte, / die trauernde Frau schrie/ und ein ernst dreinblickender Herr
weinte in seine Hände, / als er die Wachspuppe sah, / er verrenkte sich den
Kopf in seinen Händen, / als er die Wachspuppe sah.“
Sinn
und Form, Heft 1/2022, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin, 144
Seiten, 11 Euro.