Simone Scharbert: Rosa in Grau
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Anke Glasmacher
Wer kennt schon sein Ich?
Über den neuen Roman „ROSA IN GRAU“ von Simone Scharbert.
Wer ist Rosa? Die Ich-Erzählerin? Ihre kleine Tochter? Das imaginierte andere Ich? Ein Name und viele Fragen offen. So verwirrend beginnt Simone Scharberts neuer Roman „ROSA IN GRAU“, gerade erschienen in der Edition AZUR.
Rosa ist auch das: ein zarter Zwischenton zwischen rot und weiß. Dem Weiß der Wände. Dem undurchdringlichen blendenden Weiß einer psychiatrischen Anstalt in den 1950 Jahren in Westdeutschland.
Simone Scharbert hat in ihrer Erzählung einer Frau eine Stimme und einem Leben eine Erinnerung gegeben, die in den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit nicht dazu gehörte. Nach dem Krieg wollte man vergessen. Für die Psychiatrien bedeutete das, dass sie erst einmal weitermachten. Ärzte, die an Euthanasie-Programmen mitgewirkt, die Menschen als „unwertes Leben“ klassifiziert und ermordet haben oder ermorden ließen, praktizierten, forschten weiter und hingen als ehrbare Personen noch bis weit in die 1990er Jahre in den fotografischen Ahnengalerien der psychiatrischen Kliniken.
Wir erfahren nicht oder nur sehr versteckt, warum die Ich-Erzählerin, eine junge Mutter von zwei Kindern, immer wieder mit der damals üblichen Diagnose „Schizophrenie“ in die psychiatrische Anstalt Eglfing-Haar eingeliefert wird.
Simone Scharbert verweigert uns konsequent eine Draußensicht, einen einordnenden, einen wertenden Blickwinkel. Stattdessen führt sie uns im inneren Monolog der Ich-Erzählerin durch die Tage, die grauen, die gelben, die weißen, durch einen Zeitraum zwischen 1951 bis 1956, der von mehrmaligen und am Ende jahrelangen Aufenthalten in der Psychiatrie geprägt ist. Dazu gehörten Psychopharmaka, Fixierungen, Isolierung, Elektroschocks. Die Ich-Erzählerin wehrt sich gegen diese schmerzhaften Grenzverletzungen, gegen die äußerste Form der Fremd-bestimmung, indem sie sich selbst Schmerz zufügt. Etwas, das in der Systemlogik der Anstalt unweigerlich dazu führt, dass sie wieder Psychopharmaka oder Elektroschocks erhält oder isoliert wird und mit jedem Eingriff mehr ihre Erinnerung und damit sich selbst verliert.
Als Leserin beginnen wir die
Erzählung am Ende: Als die Namen schon verschwunden sind und wir nicht wissen:
Wer ist Rosa?
Simone Scharbert gelingt es, auch
die anderen Zwischentöne aufzuzeichnen: Die zarten Kontakte, die die Menschen
zueinander schließen, manchmal nur mit Blicken, manchmal mit Wortandeutungen,
die nur versteht, wer in derselben inneren Welt zu Hause ist, manchmal durch
die Kunst, die das Sprechen übernimmt. Dann übernehmen wir, die Leser/innen für
einen Moment die Begleitung der Ich-Erzählerin, sprechen ihre Gedankengänge
nach, gehen die einzelnen Schritte, spüren das Kreisen, das
Unvorstellen-Können.
Dann – und das ist die große
Kunstfertigkeit des Textes – verwischen die Ebenen: Rosa, das Kind, zu dem die
Erzählerin spricht, wird zum „Ich“, und als Leserin gleitet man immer näher an
die Erzählerin heran. Ein Spiel der Identitäten beginnt.
Simone Scharberts Sprache ist
leise, einfühlsam und kraftvoll in ihrer Authentizität. Sie hat einer Frau –
stellvertretend für die vielen Frauen, die jahrelang in den psychiatrischen
Anstalten sein mussten – eine Stimme gegeben, die die Psychiatrie (oder die
Gesellschaft) zu Objekten gemacht hatte.
Die großen Gesellschaftsfragen
beginnen genau da: Bei der Frage der Identität. Die früheren Meister dieser
Erzählkunst hießen Thomas Bernhard („Gehen“) oder Max Frisch („Mein Name sei
Gantenbein“). In dieser Tradition steht auch „ROSA IN GRAU“, eine
durchdringende Erzählung, intensiv, verstörend, eine Heimsuchung, wie das Buch
im Untertitel treffend heißt. In seiner ganzen Mehrdeutigkeit. Und auch das: Es
ist ein dystopisches Buch zur Zeit. Wenn Worte plötzlich nichts mehr zählen.
Wenn sich Wahrheiten nicht mehr einstellen wollen. Wenn Wirklichkeit einen
Schleier erhält. Wenn Norm nach neuer Übereinkunft ruft.
Nein, Rosa ist kein Objekt. Keine
aus einem ICD-Schema. Rosa hat ein Ich. Das mehr ist als ein Zwischenton
zwischen blutrot und wändeweiß. (ag)
Zum Buch:
Simone Scharbert: „ROSA IN GRAU“. Eine Heimsuchung. Dresden (edition AZUR im Verlag Voland & Quist) 2022. 184 Seiten, 20,00 Euro.
Zur Autorin:
Simone Scharbert, geb. 1974 in
Aichach, lebt und arbeitet als freie Autorin in Erftstadt.
https://www.simonescharbert.de