Simona Goșu: Zerbrechlich (Auszug)
Montags=Text

Foto: Răzvan Rusu
Simona Goșu
Auszug aus dem
Kurzprosaband Zerbrechlich, Polirom
Verlag
(Sofia-Nădejde-Preis
für Frauenliteratur, Prosadebüt)
Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke
Crina
zog am Vorhang, bis sie die Ösen, an denen er aufgehängt war, knirschen hörte, aber
sie konnte ihn trotzdem nicht zur Seite schieben. Also hob sie ihn an und schlüpfte
darunter. Im Türrahmen blieb sie mit gesenktem Kopf stehen. Der dunkle Balkon
war über die gesamte Fläche mit großen, vollen, zugebundenen Säcken zugestellt.
Sie hörte etwas rascheln. Über einem der an die Außenwand gelehnten Säcke sah
sie einen weißlichen, rechteckigen Fleck, der sich bewegte, hin und her. Sie
schaute hoch zu den Balkonbretter. Im schwachen, aus dem Wohnzimmer kommenden
Licht erblickte sie zwei weiße Ärmel. Andis Vater saß im Halbdunkel auf dem
Balkongeländer, als würde er darauf reiten. Man konnte die Konturen seines
Körpers am Kragen erkennen, an den weißen Ärmeln und dem nackten Fuß, den er
über dem Sack baumeln ließ. Crina trat vorsichtig über die weichen Säcke auf
ihn zu. Herr Molnár klammerte sich mit beiden Händen am
Geländer fest, als würde er Zügel halten, und schaute hinunter, zum anderen
Bein. In diesem Moment zeigte sich ein großer, runder Mond zwischen den Wolken
und der Mann hob den Kopf. Ganz gelassen schaute er zum strahlenden Mond, während
Atemhauch sein Gesicht umhüllte. Nach einigen Sekunden drehte er den Kopf und schaute
seinem nackten Fuß hinterher. Crina beugte sich zu ihm und betrachtete ihn
näher. Über dem weißen Hemd trug er eine dunkle Weste.
„Ah“,
erfuhr es dem Mädchen im spielerischen Ton während es die Hand vor den Mund
schlug. Es schaute ihn an, ohne zu blinzeln: Hinter ihm standen der Mond und
ein Himmel voller Sterne, während Herr Molnár verwirrt den Blick von einem Bein zum anderen
warf , wie ein Puppenspieler am Ţăndărică-Theater.
„Vili“,
sagte die alte Frau von drinnen und seufzte lang.
Dann
murmelte sie etwas auf Ungarisch, mit klappriger Stimme, als würde sie ein
Gebet rezitieren. Der Mann hatte die Augen auf den Fuß gerichtet, der über dem
Freien hing.
„Guten
Abend“, flüsterte Crina.
Sie
machte einen Schritt nach vorne, aber sie stolperte, weil sie mit den Schuhen
in den Säcken versank.
Der
Nachbar drehte langsam den Kopf zu dem Mädchen. Er lächelte und ließ das Kinn
zur Brust hängen.
„Was
für ein schöner Mond“, fuhr Crina in ruhigem Ton fort. „Ob man ihn überall
sehen kann? ... Ich meine, auch in Amerika? In Dänemark?“, fügte das Mädchen im
Flüsterton hinzu und ließ seinen Kopf nach hinten fallen.
Herr
Molnár hob die Schultern an,
bewegte die Lippen.
„Ist
Ihnen nicht kalt? Ich würde meine Jacke holen gehen, ich habe sie im Ranzen“,
sagte Crina fröstelnd.
Sie
blieb stehen, ohne ihren Blick vom Himmel abzuwenden.
„Er
bewegt sich, der Mond …“, flüsterte sie, und streckte ihren Zeigefinger nach
oben. „Er schwebt, haben Sie das gesehen? Die Wolken bewegen sich auch … Ganz
langsam, wenn man aufmerksam guckt, bewegt sich alles“, fuhr das Mädchen im
Flüsterton fort, während es zum Himmel schaute.
Der
Mann sah nach oben.
„Schön“,
sagte das Mädchen.
Der
Nachbar seufzte und schüttelte den Kopf. Er lehnte seine Ferse gegen die Wand
und nahm seinen Bart in die Hände. Seine Schultern bebten, während er
schluchzte.
„Was
ist?“ wollte das Mädchen wissen. Es streckte die Hand nach dem Nachbar aus und
ließ sie langsam auf dessen Schulter herunter.
„Nein,
das ist nicht … Nein …“, sagte Crina. „Ich weine auch manchmal“, flüsterte sie
verwirrt.
Herr
Molnár blieb unbewegt, ohne einen
weiteren Ton von sich zu geben. Seine linke Hand umklammerte das Gelenk des
Mädchens.
„Wir
gehen lieber ins Haus, es ist kalt“, sagte Crina ohne seine Hand loszulassen.
Der
Nachbar nickte, schaute über das Geländer und biss gleichzeitig seine Lippen.
Er nahm beide Hände des Mädchens, schüttelte sie kurz und hielt sie fest in
seinen Fäusten.
„Kommen
Sie rein“, sagte Crina sanft und zog ihre Hände aus seinen heraus.
Sie
machte einen Schritt zurück, über die Säcke, und berührte sein Knie. Herr Molnár stützte sich mit den Armen
vom Geländer ab. Er hob sein linkes Bein über die Mauer und fiel über die
Säcke. Das Mädchen ging zur Seite und beobachtete ihn. Dann beugte sie sich zu
ihm.
„Vili“,
hörte man die Stimme der alten Frau, die wie ein Mäusepiepsen klang.
„Er
kommt ja schon“, rief Crina und drehte sich zum Vorhang um.
Der
Mann blieb in Seitenlage liegen. Seine Hände zwischen den Beinen, das Kinn auf
der Brust. Er war leise, das Mädchen war bei ihm. Frau Erjis Klagen übertönten
ein paar bellende Hunde von draußen. Nach einer Weile stand Crina auf.
„Meine
Beine sind eingeschlafen.“
Sie
stieg über die Säcke, die Ellenbogen auf das Balkongeländer gestützt, und sah
nach unten zu den benachbarten Wohnungen.
„Sie
wohnen ganz schon weit oben“, sagte sie verwundert. „Schauen Sie mal, bei mir
brennt Licht in der Küche“, fügte sie hinzu und hielt ihren Blick auf das linke
Fenster, fünfte Etage gerichtet. Dann stieg sie herunter und ging vorsichtig in
seine Richtung.
„Mir
ist sehr kalt“, sagte sie mit klappernden Zähnen.
Sie
drehte sich zum Mann, reichte ihm die Hand und half ihm dabei, aufzustehen.
Danach schlich sie sich unter dem Vorhang hindurch ins Wohnzimmer und zog den
Mann hinter sich her hinein. Sie gingen an Frau Erji vorbei, die auf dem
dunklen Parkett saß und ihren Kopf in den Händen hielt. Crina führte den Mann
bis zu einem Sofa, das vor der Wand stand und voller Flusen war. Dann kehrte
sie zurück zu der alten Frau.
Simona
Goșu, geb.1976, ist eine rumänische Übersetzerin. Sie studierte
Sprachwissen-schaften an der Universität Bukarest und absolvierte ein
Masterstudium im Bereich Angewandte Linguistik und Englisch auf Lehramt. Sie
nahm an dem von Florin Iaru und Marius Chivu kuratierten Creative-Writing-Kurs
teil. Daraufhin wurde sie in das Mentoring-Programm Prima Carte/Das erste
Buch, durchgeführt von der Stiftung Fundația Friends for Friends,
aufgenommen. Kurzprosa von ihr erschien in verschiedenen Literaturzeitschriften
wie Iocan, Familia, Steaua, revistadepovestiri.ro
sowie auch in dem Sammelband Kiwi. 2020 debütierte sie mit dem
Erzählband Fragil/Zerbrechlich (Polirom Verlag), der 2021 für den Preis
der Literaturzeitschrift Observatorul Cultural, den Preis des
rumänischen Schriftsteller:innenverbands sowie für den Nationalen Prosapreis Ziarul
de Iași nominiert wurde.