Sigurður Pálsson: Stimmen in der Luft III
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Sigurður Pálsson
Stimmen in der Luft III
(Aus: Ljóð
muna rödd / Gedichte erinnern eine
Stimme, Forlagið / JPV útgáfa, Reykjavík 2016 / ELIF VERLAG, Nettetal 2019)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang
Schiffer

Foto: Johann Pall Valdimarsson
Verzeiht
mir dass ich den Windhauch erwähne
während
das Blei beim letzten Buchstaben
des
Spektrums angekommen
einem
jeden bedeutet Erde zu fressen
Aber ich
muss davon sprechen
dass ich
den Windhauch erwachen sah
während
die Düsenjets Streifen
auf die
Seiten des Himmels schrieben
ich sah
ihn langsam über den Küstenstreifen kommen
sich
ausruhen
einschlafen
beinah
dann
richtete er sich ein wenig auf
und strich
durch die Johannisbeersträucher
Ich sah
dies heute Morgen
als das
Leben gerade die Bäume zeichnete
die im Garten
dösten
die
Fliegen im Balkonfenster
Die Katzen
waren nirgendwo zu sehen
an diesem
stillen Morgen
Der
Rhabarber hielt
in seinem
Wachstum inne
Die ganze
Insel ruhte aus
wie am
ersten Ruhetag
Im warmen
Schatten der großen Bäume
breitete
der Morgen einen
grünen
Teppich
für ein
Picknick aus
Während
der Windhauch zum Balkon hoch glitt
fand er
ein Buch soeben vom Leben geschrieben
er las es
durch von Anfang bis Ende
und
entbrannte vor Begeisterung
er fuhr
durch alle Straßen
und
erzählte den Leuten
was er
gelesen hatte
Erzählte
den Leuten
von dem
großen Wunder
dass das
Leben zeichnen und schreiben könne
und er
könne lesen
Sigurður Pálsson, geboren 1948 in Skinnastaður im Norden Islands, studierte
französische Sprache und Literatur in Toulouse und an der Sorbonne sowie
Theaterwissenschaften und Filmregie am Conservatoire Libre du Cinéma Français
in Paris. Nach seiner Rückkehr nach Island war er als Dozent an der dortigen
Universität und an Kunstakademien, Theater- und Schauspielschulen tätig,
arbeitete als Journalist und bei Film und Fernsehen. Vor allem aber
veröffentlichte er seit seinem 1975 erschienenen lyrischen Debüt Ljóð vega salt (in etwa: Gedichte in der Waage) fünfzehn
weitere Gedichtbände, drei Romane, drei Erinnerungs-bände, mehrere
Theaterstücke, Opernlibretti, Fernseh- und Radiomanuskripte sowie
Übersetzungen, insbesondere aus dem Französischen, darunter von Schriftstellern
wie Fernando Arrabal, Jean Genet, Jacques Prévert, Paul Éluard, Albert Camus
und Patrick Modiano. Für seine Veröffentlichungen erhielt er zahlreiche
literarische Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. in 2007 den Isländischen
Literaturpreis und
ein Jahr später die Auszeichnung Chevalier
de l´Ordre du Mérite für seinen Beitrag zur
Verbreitung französischer Kultur in Island. Für seine Verdienste um die
isländische Literatur und Kultur wurde er 2017 zum Ritter des Isländischen
Falkenordens ernannt.
Sigurður
Pálsson starb am 19.
September 2017 in Reykjavík. Wenige Monate zuvor noch war ihm für seinen
letzten Gedichtband Ljóð muna rödd /
Gedichte erinnern eine Stimme der vom isländischen Schriftstellerverband
und der isländischen Nationalbibliothek erstmals verliehene Poesiepreis Maistern verliehen worden; postum wurde
der Dichter mit Ljóð muna rödd / Gedichte
erinnern eine Stimme für den Literaturpreis
des Nordischen Rates 2018 nominiert. Die im ELIF Verlag erschienene
Übertragung des Gedichtbands ins Deutsche wurde auf die Hotlist 2019 gewählt,
die Liste der 10 besten Bücher aus den unabhängigen Verlagen im
deutschsprachigen Raum.