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Sigurlín Bjarney Gísladóttir: Sechs Gedichte

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island
SIGURLÍN BJARNEY GÍSLADÓTTIR

Sechs Gedichte

(Aus: Undrarymið / Die Wunderkammer, Mál og menning, Reykjavík 2019)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


Selva oscura

Im Sturm erscheinen Frösche
sie springen voll entwickelt aus dem Schlamm

auf sonnengebackenen Steinen
entstehen Skorpione
im Frachtraum der Schiffe zeigen sich Mäuse

aus Schlamm/Erde/verfaulendem Fleisch wachsen Insekten

im Dunkel des Walds verbirgt sich ein glimmerndes Licht
unterm Laub
ein Stein vom Kopf einer Schlange

ich bin hergekommen
in diesen Wald
um Frösche, Skorpione, Schlangen und Mäuse zu finden
Sonnenschimmer
Insekten
Wirrwarr und Chaos



Sinneswahrnehmungen

Sei ein Schwamm!
Tauche dein Haupt in Ahnungen ein
in Tagträume und den Geruch von feuchter Erde

sauge die Eindrücke
ein in die Augen die Nase den Mund die Haut
das Haupt
und schicke sie hinaus in die Welt

Sei ein Schwamm der zuerst riecht
und dann  
in eine vielschichtige Wahrnehmung beißt

Sei auch
Saat in feuchter Erde
blühe

blühe blühe
in dieser hellen Dunkelheit



Über die beruhigende Binse

Die Zeit gibt alles
und nimmt alles
sie erhebt mich aus dem Staub
brennt mich nieder
sodass ich hinunter
in den Staub falle
erhebt mich aus dem Staub
schlägt mich nieder
erhebt mich aus dem Staub
taucht mich wieder ein
in diesen sauren, grauen Staub

Ich bin eine Kaulquappe
ich bin ein Frosch
ich bin eine Eidechse die kriecht
ich werde eins mit dem Wasser, den Steinen, den Bäumen
aber in der Binse fühle ich mich am wohlsten

In der Binse ist keine Zeit
kein Staub
nur warme Feuchte, schattige Helle, Wachstum
und Rauschen



Wachstum

Sich ausdehnen
im Inneren
in feuchter Dunkelheit

Arm Darmflora Herzmuskel Pankreas Haare
Kind

und auch:
Scham (giftig)
Schuldgefühl (schleimig)
Unbehagen (absonderlich)
Wut (krampfartig)
Schmerz (schneidend)
Blindheit Hunger Sehnsucht

das Genmaterial ist überfüllt mit Erinnerungen an Großmutter und Großvater, Urgroßmutter
                                                                                                                           und Urgroßvater

und dann:
Blumensamen Wurzelberg
Hoffnungsschimmer

In jeder Zelle ist ein Sonnensystem:
ein Sonnenkern und Trabanten im Zytoplasma
das Organ ist eine Galaxie
der Körper eine Welt im Universum



Bleiche Zunge, blutige Zunge

Alles was ich bis jetzt
gesagt habe
schart sich auf meiner Zunge
die Wörter sammeln sich
Konjunktionen in der Mitte
Präpositionen an der Seite
die Adjektive vorne
die Nomen weit hinten
die Verben verstreut
überall

Sie zerbricht
mehrmals am Tag
spaltet sich
aber heilt
sofort wieder

Die Wörter die ich nicht sagen konnte
aber besser gesagt hätte
brechen sich einen Weg
aus der Kehle
springen ab von der Zungenspitze
und sagen ausschließlich eins:
Verzeihung



Hautsalz auf der Landebahn

Das Salz im Meer, auf der Erde
ist dasselbe wie das auf der Haut

Ich sende auf einer neuen Frequenz
Nachrichten aus
über eine inspirierte Erfüllung
die Stunde der Trunkenheit

Das Rauschen des Flughafens dringt zu mir rüber
durch die Dunkelheit des Vormittags
erinnert mich daran den Flughafen offen zu halten
Ideen zu erlauben zu landen
sich zu erheben wie ein Gedicht
die richtige Frequenz einzustellen

lecke Haut
salze die Landebahn
denke an die See und das Salz der Erde

zu fliegen ist etwas Bewundernswertes
wohlbehalten zu landen nicht minder


Sigurlín Bjarney Gísladóttir, geboren 1975 in Hafnafjörður, aufgewachsen in dem Fischerdorf Sandgerði, war zunächst u.a. als Reiseführerin tätig sowie als Korrektorin und Lehrerin. Später machte sie ihren Master an der Universität Islands in Kreativem Schreiben und Isländischer Literatur; im letzten Fachbereich hat sie inzwischen auch promoviert.
    Seit Fjallvegir í Reykjavík  / Bergstraßen in Reykjavík, ihrem 2007 erschienenen ersten Buch, das Prosadichtung enthält, veröffentlichte sie mehrere weitere Bände mit Kurzgeschichten und Lyrik, zuletzt die Gedichtbände Tungusól og nokkrir dagar í maí  / Zungensonne und einige Tage im Mai (2016) sowie Undrarýmið / Die Wunderkammer.(2019). Diese Gedichtsammlung enthält auch Abbildungen aus der Wunderkammer der Hagströmer Bibliothek in Stockholm; die Autorin wurde mit dem Band für den Maistern nominiert, einem der höchsten Auszeichnungen für Lyrik in Island.
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