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Sigurjón Bergþór Daðason: Synästhesie

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Sigurjón Bergþór Daðason

 
SYNÄSTHESIE
 
(Aus: Tímarit Máls og menningar / Zeitschrift Sprache und Kultur, Heft 2, 2024, Reykjavík)

Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer

 
SYNÄSTHESIE

Es ist unmöglich, sich
außerhalb oder innerhalb
des Farbspektrums
eine neue Farbe auszudenken.
Aber manchmal sehen Menschen eine Farbe,
wenn sie einen Ton hören,
wie der Komponist Skrjabin,
der ein Lied für Symphonieorchester schrieb,
oder Rachmaninow,
der ein Präludium
träumte für Klavier.

Einer hört Farben,
ein anderer kostet Klänge
der dritte ertastet Geruch.

So ist die Fledermaus nicht blind,
die sich den Knall vorstellt
bei der Schöpfung des Universums,
während sie in der Dunkelheit kopfüber
von der Decke der Höhle hängt,
wo das Dasein so merkwürdig erscheint.

Ihre Sprache
klingt wie Fingerschnalzen
ohne Bedeutung,
aber die Töne hellen ihr rundum die Wände auf,
mit  einer welligen Tapete,
einem Musikstück, das keiner sieht
außer ihr
in dieser ungeheuren Festlichkeit
unzusammenhängender Sinnesorgane


Sigurjón Bergþór Daðason ist Schriftsteller und lebt in Island. Er studierte klassische Musik, derzeit aber Philosophie an der Universität von Island. Er hat die Romane Hendingskast /Ein schneller Wurf (2015), Óbundið Slitlag / Unbefestigte Fahrbahn (2018) und Umbrot / Umbruch (2023) veröffentlicht. Diese Romane spielen im heutigen Island. Sie handeln meist von Menschen, die sich in ungewöhnlichen Situationen befinden und nach einem Sinn suchen in einer ihnen absurden Welt. Außerdem veröffentlichte Sigurjón Bergþór Daðason Gedichte in Zeitschriften und trat bei Lesungen auf. Seine Gedichte wirken dabei eher wie Meditationen, schöpfen aber gleichzeitig Kraft aus der Freiheit der poetischen Welt, in der es nicht nötig ist, sich an den Realismus zu binden. Das Gedicht Synästhesie stammt aus einem noch unveröffentlichten Manuskript eines Gedichtbands.

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