Sigríður Hagalín Björnsdóttir: Des Hauses Klagelied
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Foto: Kristinn Ingvarsson
Sigríður Hagalín Björnsdóttir
DES HAUSES KLAGELIED
(Aus: Ljóðbréf Nr. 7 / Poesiebrief Nr. 7, Tunglið forlag, Reykjavík 2023)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
DES HAUSES KLAGELIED
I
Wir kämpfen uns aus dem Rausch heraus
einer nach dem anderen
steigen aus dem Bett
das linke Bein zuerst, dann das rechte
Seite an Seite
betrachten die Überbleibsel
der Freude
die Reste der Feier
schmutzige Gläser und volle Aschenbecher
leere Flaschen, Risse im Parket
die zerschlagenen Köpfe unserer Kinder
den Mond, katapultiert aus seiner Umlaufbahn
All diese Abstürze / Zusammenbrüche
all diese Sündenfälle
verweisen auf denselben Schluss
Die Lehren der Geschichte sind keine
und die Herzen zerbrechen
eins nach dem anderen
in der gnadenlosen Dynamik des Verlangens
II
Der Schreiner, der die Haustür reparierte
meinte, dass es reiche, die Scheibe und
das Schloss auszuwechseln
wir würden uns schnell an die Risse gewöhnen
die Kratzer könnte man mit Walnusssaft behandeln
Walnüsse in die Wunden reiben
und wenn auch der Türrahmen verschwunden war
und die Wände dem Einsturz nahe
so wären die Scharniere noch in gutem Zustand
man könnte diese Tür öffnen
und wieder schließen
gerade so, als wäre die Welt noch da
III
Sie ist auf in die Sonne und davon
aber ließ die Wärme unter der Decke zurück
die Wärme eines kleinen Mädchens
in Schlafanzughose und Unterhemd
im Halbschlaf
mit einem verschlafenen Lächeln
Ich kann mich nicht dazu durchringen, das Bett zu machen
denn es wird sie nicht immer geben
eines Tages wird sie aus der Welt gegangen sein
wie ich
und du
und wir alle
wir lassen nur einen schwachen Duft von uns zurück
werden kühler
werden matter
und ich wünsche mir so heiß
so heiß
dass ich als Erste gehen darf
Sigríður Hagalín Björnsdóttir ist eine isländische Journalistin, Moderatorin und Schriftstellerin.
Sie wurde 1974 in Reykjavík geboren, studierte Geschichte und spanische Literatur an der
Universität Islands und der Universität in Salamanca und machte einen Master in
Journalismus an der Columbia University in New York. Seit 1999 arbeitet sie
zeitweise als Reporterin für RÚV, den öffentlichen rechtlichen Rundfunk
Islands, darunter mehrere Jahre als Korrespondentin in Kopenhagen. In den
letzten Jahren moderierte sie im Fernsehen die politische Talkshow Silfrið / Das Silber.
Ihr erster Roman, Eyland / Insel, erschien
2016, er erfuhr große Beachtung und
wurde für den Fjöruverðlaun und den Kulturpreis Menningarverðlaun
DV nominiert; 2018 erschien er in Deutschland unter dem Titel Blackout
Island im Verlag Suhrkamp. Seitdem hat Sigríður Hagalín Björnsdóttir vier
weitere Romane geschrieben: Hið heilaga orð / Das Heilige Wort (2018), Eldarnir. Ástin og aðrar hamfarir / Die
Feuer. Die Liebe und andere Katastrophen (2020), auf
Deutsch 2022 unter dem Titel Islandfeuer erschienen, Hamingja þessa heims / Das Glück dieser Welt (2022) und aktuell Deus
(2023). Mit Hamingja
þessa heims / Das Glück dieser Welt
wurde sie für den isländischen Literaturpreis nominiert. Außer in Deutsch-land
wurden ihre Bücher in vielen weiteren Ländern veröffentlicht, z. B. in Frankreich,
Norwegen, Polen, Ungarn, Tschechien und Russland. Sigríður Hagalín Björnsdóttir
lebt in Reykjavík.
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