Serhij Zhadan: Leben heißt sterben
Gedichte > Münchner Anthologie
						Serhij Zhadan
Leben heißt sterben
Im Sommer, wenn die Ringe
						und Nägel glühen
an den Fingern von Männern
						in Bahnhofshotels
und in der Dämmerung die
						Hochhauskinder
ihren schwarzen Fußball
						ans Herz drücken;
im Dunkeln, wenn der Rosé
						in den Weinkellern schal wird,
kriecht der Schneckenzug
						nach Budapest
staubig und klapprig
						unterm Mond dahin.
Wenn Du mal tot bist,
						gehst du weiter
Durch die nächtlichen Höfe
						und siehst, daß
der Tod Pfefferminzbonbons
						in der Hand hat,
sie an die Kinder in der Bahnhofswildnis
						verteilt.
Im Sommer, wenn der warme
						Futterstoff des Lebens gewendet wird,
wenn Kleinwagen, grell wie
						Lippenstift, zu Bruch gehen,
kommt der alte Apotheker
						heraus,
verkauft Tag für Tag
						Aspirin,
spielt ein unbekanntes
						Spiel mit dem Tod;
ohne dich geht das Leben
						nicht los, lachen die Frauen auf dem Platz,
leben heißt sterben, sagen
						die einsamen Kuriere,
die in Rucksäcken trockene
						Himmel tragen.
Wenn du mal tot bist,
						trittst du zurück in den Schatten
und siehst, wie hilflos
						dein Körper zwischen den Halmen
des dichten Grases nach
						dir sucht;
mitten im Sommer
						gestorben, 
die Fäden gekappt, an
						denen Postboten zogen,
reiß die Seelen der
						Verstorbenen wie dornige Hauhechel
ihre Vertikalen in die
						Luft.
Versuch es, wenn Du weißt
						wie,
versuch es, reiß mich aus
						den nächtlichen Eingeweiden des Landes,
reiß mich aus den
						unsichtbaren Abzugsschächten in den Himmel,
durch die uns die Liebe
						erreicht.
Wer hält die Insekten und
						Geister auf,
wer vertreibt sie aus
						deinem Körper?
Unterm Sommerhimmel duftet
						unsere Erde
Jahr für Jahr so
						schmerzlich nach Mond und Verbandszeug.
… Nach dem Tod trittst du
						einen halben Schritt zur Seite
und siehst durch die Nähte
						der Luft,
wie geheimnisvolle
						Filmvorführer
einen großen
						Himmelsprojektor
auf deinen Körper richten,
damit die Seelen der Toten
und die smaragdfarbenen
						Schatten der Käfer
gegen sein Licht fliegen …
Serhij Zadan:
						Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts. Gedichte. Übersetzt von Claudia
						Dathe. Frankfurt a.M. (edition suhrkamp) 2006, Seiten 33/34
Ulrich Schäfer-Newiger
Wenn Du
						mal tot bist, siehst Du.
						
						Der Titel des Gedichts Leben heißt sterben spricht eine
						offenbare Banalität aus, eine Binse, wenn man so will, die uns spätestens seit
						den lebenspessimistischen alten Griechen als philosophische Erkenntnis durch
						immer neues und wiederholtes Aussprechen vermittelt und glaubhaft gemacht werden
						soll.  Einige von denen verachten daher
						das Leben, bevorzugen das Nicht-Geboren-Sein und wünschen dem doch Geborenen, so
						schnell Du kannst, / hinzugelangen, woher du kamest (Sophokles, Oidipus auf
						Kolonos, Vers 1226). Einer ihrer größten Adepten, Emil Cioran, meinte, wir
						liefen nicht dem Tod entgegen, sondern flüchteten vor der Katastrophe der Geburt.
						
						Kann daher ein Gedicht mit diesem Titel noch etwas in uns
						Gegenwärtigen bewirken, über das hinaus, was wir heute, in erneuter
						Endzeitstimmung, vom Tod zu wissen glauben, vermitteln, uns fühlen und spüren
						lassen? Zunächst überrascht, wie nonchalant der Dichter mit dem Tot-Sein
						umzugehen scheint: Wenn Du mal tot bist, gehst du weiter … und siehst…,
						heißt es an einer Stelle, an einer anderen: Wenn Du mal tot bist, trittst du
						zurück in den Schatten / und siehst…, an wieder einer anderen: Nach dem
						Tod trittst du einen halben Schritt zur Seite / und siehst … Es wird also
						ein Weiterleben nach dem Tod imaginiert, das mit Sehen, Erkennen von vielleicht
						etwas Neuem, bisher nicht Erkanntem, verbunden ist. Ist das wörtlich oder
						bildhaft gemeint? Ein Weiterleben nach dem Tod ist doch wesentlicher
						Bestandteil des Glaubens wohl aller Religionen. Sicherlich können wir das heute
						nicht wörtlich nehmen, denn wir sind doch überzeugt, dass es ein bewusstes Weiterleben
						nach dem Tod nicht gibt. Aber wie dann? Vielleicht müssen wir vorläufig dieses
						Bild des Beiseite- und Zurücktretens und gleichzeitigen Erkennens nach dem Tod einfach
						so stehen lassen.
						
						Eingebettet sind diese Aussagen über das, was unmittelbar
						nach dem Gestorben-Sein passiert, in äußerst präzis und genau skizzierte kleine
						Geschichten, die sich aus nahezu surrealen Bildern schälen: Ringe und Nägel
						glühen an Fingern von Männern in Bahnhofhotels. Ein Schneckenzug nach
						Budapest fährt staubig und klapprig unterm Mond dahin. Der Tod
						verteilt Pfefferminzbonbons an Kinder in der Bahnhofswildnis. Alleine
						dieser von der Übersetzerin der Gedichte aus dem Ukrainischen, Claudia Dathe,
						gefundene Begriff lässt ein Bild in uns entstehen wie etwa aus einem Film von
						Tarkowski: irgendwie hyperreal und doch einsichtig. Kaum ein anderer Begriff
						wäre hier adäquat. Oder: trockene Himmel in Rucksäcken, oder: Hilflos
						sucht Dein Köper zwischen den Halmen nach Dir, oder: Fäden sind gekappt,
						an denen Postboten zogen … die Seelen der Verstorbenen reißen ihre
						Vertikalen wie Hauhechel in die Luft, nächtliche Eingeweide des Landes,
						unsichtbare Abzugsschächte in den Himmel, usw. usw.
						
						Darin liegt die große poetische Kunst dieses Dichters: Die
						Bilder sprachlich so zu gestalten, die Wörter aus der schier unendlichen Anzahl
						der Bilder seiner Sprache so auszuwählen und zusammenzufügen, als sei die von
						ihm gefundene Weise die einzig mögliche, wie es im Nachwort Juri Andruchowytsch
						formuliert, als sei sie die scheinbar einzig poetologisch richtige Komposition.
						Am anschaulichsten und eindringlichsten gelingt ihm dies mit dem letzten Bild bei
						den geheimnisvollen Filmvorführern, dem großen Himmelsprojektor, der
						bewirkt, dass die Seelen der Toten / und die smaragdfarbenen Schatten der
						Käfer gegen das Licht deines Körpers fliegen. Mit diesem Bild verschwebt sozusagen
						die vom Dichter gezeichnete Vorstellung von dem, was nach dem Tod ist, mit
						einem geschieht, langsam ins Nichts. 
						
						In einem anderen Gedicht dieses Bandes, mit dem Titel Elegie
						für Ursula, malt der Dichter ein anderes, gleichermaßen eindrucksvolles
						Bild: für mich ist sterben wie aus einem / leeren Zimmer in anderes gehen
						und / einen Luftzug erzeugen, der die Steckdosen herausreißt und den
						Zurückgebliebenen das Blut erstarren lässt. Tod ist ein Leitmotiv der
						Gedichtsammlung. Seine sprachlichen Formen und Bilder sind indessen nicht
						romantisch, metaphysisch überhöht oder einer christlichen oder anderen
						religiösen Bildsprache verpflichtet. Sie wirken vielmehr direkt, irdisch,
						greifbar, auf eine nicht gleich zu verstehende Art sogar versöhnlich, nicht furchterregend-apokalyptisch.
						Sondern, so kann das Sehen nach dem Verstorben-Sein durchaus auch gedeutet
						werden, als eine Art geheime Offenbarung, also durchaus in der Bedeutung des
						griechischen Ursprungs des Begriffes. Aber eben: ohne einen Gott. Es ist eine
						von vielen Versuchen, die Erfahrung des Todes in eine poetische Form zu gießen,
						ihn möglichst ohne metaphysische Idealisierungen oder Verharmlosungen zu
						fassen. Dabei sind dem Dichter überzeugende, unverwechselbar bleibende Bilder
						gelungen. Aber bei ihm gibt es auch die Trennung von Körper und Seele; der
						Metaphysik entkommt auch dieser Dichter nicht. Wie auch, bei diesem Thema.
						
						Es ist nicht zu verhehlen, dass Serhij Zhadan zugleich eine durchaus
						männliche Sicht des Geschehens präsentiert. Ein deutliches Zeichen dafür ist
						das Eingangsbild der Männer in Bahnhofshotels, deren Ringe und Nägel an den
						Fingern glühen. Frauen haben die Rolle von Verkünderinnen der Weisheit, dass
						ohne Tod das Leben sich nicht entfalte. In anderen Gedichten des Bandes ist
						diese Dichotomie noch ausgeprägter.
						
						Vielleicht, ist man geneigt zu mutmaßen, müssen ukrainische
						Dichter der Generation von Serhij Zhadan ein anderes Verhältnis zum Tod haben,
						als wir im Westen, die seit über 70 Jahren keinen Krieg mehr erlebten. Das
						Gedicht entstand Anfang der 2000er Jahre, der Gedichtband erschien in der
						Ukraine 2003, in Deutschland 2006. Er ist also nicht vom akuten Angriffskrieg
						der Russen auf die Ukraine geprägt, sondern von älteren, länger währenden, noch
						anderen, aber scheinbar doch unmittelbareren Erfahrungen.
 
 
