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Sergio Raimondi: Poesía civil - Zivilpoesie

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Nora Zapf


Poesie in Zivil.

Sergio Raimondis diskursive Lyrik in neuer Übersetzung



Was haben Wartungshallen der Eisenbahn mit den Schmieden von Vulcanus, dem Technik-Gott, zu tun? Poesie und Privateigentum? Poetik und industrielle Revolution? Analogien wie diese knüpft der argentinische Dichter Sergio Raimondi in seiner Lyrik immer wieder neu – und verbindet so die Themenfelder Arbeit und Erzählung, Markt und Mythos, Industrialisierung und Poesie. In dieser Verbindung entsteht die für ihn typische „diskursive“ Lyrik. Im Duden heißt es zu „diskursiv“: von Begriff zu Begriff methodisch fortschreitend; schlussfolgernd oder in ausführlichen Diskussionen, Erörterungen methodisch vorgehend. In der diskursiven Lyrik Raimondis werden Begriffe, die methodisch fortschreiten und das eine aus dem anderen schlussfolgern, eingesetzt wie Metaphern, reihen sich in klanglicher Assoziation aneinander und werden somit zum poetischen Basis-Material. Fundamente von Gebäuden werden verglichen mit den Satzstrukturen, beschleunigte Transportmittel mit der Geschwindigkeit der Verse, und Rauch und Feuer deuten sowohl auf die unendlich qualmenden Prozesse der Industrien hin, die immer mehr Material und Arbeit verheizen, wie auch auf die Rituale für die Anbetung indigener lateinamerikanischer Götter, die in Argentinien schon längst verdrängt oder vergessen wurden („Gäbe es sie, so könnte man vermuten, dass der / schwere verführerische Rauch, der in schwarzen, / sich windenden Schwaden bis zu ihrer Tafel aufstieg, / die einheimischen Götter versöhnt hätte.“) In der Lyrik Raimondis werden europäische und indigene lateinamerikanische Mythologien geschmolzen und neu zusammengeschmiedet.


Sergio Raimondi, 1968 in Bahía Blanca im Süden von Buenos Aires geboren, ist Schriftsteller und Dozent für zeitgenössische Literatur an der Universidad Nacional del Sur. Er war Mitglied der avantgardistischen Gruppe Mateístas (von Mate-Tee), die murales verfasste, also Gedichte an Wänden überall in der Stadt platziert. Raimondi arbeitet im Hafenmuseum Ingeniero White, das Geschichte und Gegenwart des Hafenorts ausstellt. Diese Beschäftigung mit Bahía Blanca, eines der zentralsten Häfen Argentiniens und Knotenpunkt der Petrochemie, prägt seine Gedichte sichtlich, die immer wieder Produktionsabläufe des transatlantischen Warenaustauschs, das internationale Verkehrsnetz und die Prozesse der Globalisierung allgemein thematisieren. Wie Walcott die Aufgabe des Dichters mit dem des Handwerkers vergleicht, so schafft Raimondi die Analogie zwischen dem Hafenarbeiter, dem Schrankenwärter oder Gärtner und dem Versbauer.

Der neu übertragene Band kommt „in Zivil“ daher, dabei sind seine Begriffe oft uniformiert, militarisiert, tragen eine gewaltsame oder klassifizierende Geschichte in sich. „Zivilpoesie“ erinnert an die guardia civil, eine Polizeieinheit, versteckte Macht. Raimondis Texte handeln oft von dieser verborgenen Macht („poder“) in der Sprache, die er in einem Gedicht auch mit der Vergangenheit („ayer“, ‚gestern‘) klanglich zusammenbringt. Wie der Staat ist auch die Sprache von hierarchischen Systemen durchzogen, von Verboten und Vorschriften, das zeigen seine Gedichte. Aber durch die poetische Verwendung dieser vom politischen Essay zur Poesie gelangten Begriffssprache, wird aus der „guardia“ die „poesía civil“, eine Bürgerpoesie, eine poetische Bürgerwehr gegen die undifferenzierte Aneignung von Sprache.
    Die industrielle Inventur erhält Einzug in die Lyrik, Containeraufschriften und eingestanzte Inschriften werden poetisiert (149 MARYLAND 04 F.C.S. oder „Thomas Turton & Sons – Shefield“ oder „F.C.S.L. & Co  Ko P. C. 3/1923), Sprachprozesse finden statt, die die Überinformation an Ziffern und Buchstaben des Alltags in einen neuen Kontext bringen, teils auch schwer entzifferbar bleiben. Schiffscontainer werden nicht mehr umschrieben, sondern es wird ihre eigene Beschriftung präzise wiedergegeben. Von dieser Art der Präzision lebt die Lyrik Raimondis, die diese aufbricht durch mythische und poetologische oder Natur-Bezüge. So wird der Blitz zum Gleis in „rayo como riel“ („[e]in Blitz wie ein Gleis“) und der Regler in der Dampfmaschine zum Metrum, „la métrica […] actúe tal como el regulador […] en la máquina de vapor“ („die Metrik […] funktioniert [so], wie der Regler […] in [der] Dampfmaschine“).
    Die Übersetzung von Timo Berger, der schon 2012 eine Auswahl an Gedichten von Raimondi unter dem Titel Für ein kommentiertes Wörterbuch im Berenberg Verlag herausgegeben hat, ist sensibel und nachdenklich. In der begrifflichen Lyrik Raimondis sind Reime wie der zwischen „continuidad“ (‚Kontinuität‘) und „oscuridad“ (‚Dunkelheit‘) häufig, die schwer ins Deutsche übertragbar sind. Allerdings hätte man gerade den philosophischen Begriff „materia“ in „materia de disputa la poesía“ anstatt von „Gegenstand des Streits, die Dichtung“ auch mit „Materie des Streits“ übertragen können. Aus dem chiastischen „Anodo arriba, abajo cátodo“ wird in Bergers Übersetzung ein elegant parallelistisches „Oben Anode, unten Kathode“, das sich an Rhythmus und Klang gleichermaßen orientiert. Die sehr gelungene graphische Gestaltung des Buches stammt von Michael Wagener vom Gutleutverlag, der kleine Gedichte auf dem Cover zu einer Art Landkarte an der Achse des Atlantiks spiegelt und so auch Diskurse von Welt und Erde auf dem Umschlag aufwirft.
    Wie also – die Frage nochmals zum Schluss – lassen sich Eisenbahnhallen mit Vulcanus verbinden? Indem sich ein Arbeiter unten an einen qualmenden Waggon lehnt, während darüber ein Grollen im Olymp droht, den Himmel zum Einsturz zu bringen, so Raimondi …


Sergio Raimondi: Poesía civil / Zivilpoesie. Argentinisches Spanisch / deutsch. Übersetzt von Timo Berger. Leipzig (edition ultramar / Lateinamerikanische Literatur im Verlag Reinecke & Voß, herausgegeben von Peter Holland) 2017. 164 Seiten. 15,00 Euro.

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