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Serena Kathrin Lanfranchi: Die Schwelle als poetisches Prinzip: Der Fall Paul Celans

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Serena Kathrin Lanfranchi

Die Schwelle als poetisches Prinzip: Der Fall Paul Celans


Einleitung

Ziel dieses kurzen Beitrags ist es, das Konzept der ‚Schwelle‘ in der Dichtung von Paul Celan (1920–1970) zu untersuchen. Zunächst wird ein etymologischer sowie semantischer Exkurs angeboten, um den Begriff besser einzuordnen. Dann wird die Relevanz dieses Begriffs für die poetische Vorgehensweise des Dichters Paul Celan näher betrachtet. Danach wird diskutiert, ob und wie es nach dem Holocaust möglich ist, wieder Poesie zu schreiben. Nachdem einige Dichtungsversuche ausgeschlossen worden sind, wird die radikale poetische Sprachoperation von Paul Celan analysiert, mit der die Sprache wieder zur Kommunikation zurückgeführt werden soll. In diesem Sinne bildet gerade die riskante Schwellenzone einen fruchtbaren Boden.

Um seine poetische Vorgehensweise besser zu verstehen, werden methodisch zwei Texte vorgestellt, in denen die Sprache selbst zum Thema der Verse wird: Abend der Worte und Weggebeizt. Schließlich wird eine liminale Dimension identifiziert, in der eine Synthese gegensätzlicher Pole möglich ist: die Nacht. Das ist besonders im Gedicht Argumentum e silentio erkennbar, das ebenso analysiert wird.

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Schwelle ein fragiler Ort ist, an dem man das Überschreiten – in diesem Fall das Verstummen – riskiert. Für Celans Dichtung ist es jedoch notwendig, dieses Risiko einzugehen: Die von ihm unternommene radikale Transformation der Sprache ist mühsam und schmerzhaft, doch nur durch diese Anstrengung kann nach der Katastrophe wieder Poesie entstehen.


Etymologie und Begriff der Schwelle

Was ist mit dem Terminus ‚Schwelle‘ gemeint? Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gibt an, dass – auch wenn seine etymologische Herkunft aus dem Germanischen umstritten bleibt – sich ‚Schwelle‘ zunächst auf einen „waagerecht liegenden Balken“ bezieht, häufig als untere Begrenzung eines Türrahmens. Das Wort hat im weiteren Verlauf eine metaphorische Bedeutung erhalten, nämlich etwas, das zwei Elemente oder Orte trennt. Weiter ist im Wörterbuch zu lesen, dass sich dieser Begriff später in der Literatursprache entwickelt hat und mit der Bedeutung „Grenze, an der etwas beginnt oder endet“¹ verwendet wird. Das ist der übertragene Sinn, der diesem Wort oft zugeschrieben wird; dieses Konzept der Grenze entspricht dem, was die Lateiner mit dem Wort ‚limen‘ bezeichneten. Spuren dieser Etymologie sind auch im Deutschen zu finden, etwa in Adjektiven wie ‚liminal‘.

In diesem Beitrag wird gezeigt, wie das Konzept der Schwelle eine Schlüsselrolle in der Dichtung von Paul Celan einnimmt. Der Dichter sieht sich im Post-Shoah-Szenario gezwungen, einen neuen Zugang zur Sprache zu suchen, um wieder Gedichte schreiben zu können. Im Folgenden wird festgestellt, dass seine Sprache gezwungen ist, sich gerade in diesem liminalen Raum zu entwickeln, stets an der Schwelle zwischen zwei Polen, wobei sich im Fall der Dichtung diese Schwelle zwischen Kommunikation und Verstummen konkretisiert. Diese Zone birgt auch ein gewisses Risiko: das Überschreiten, und in diesem Fall die Gefahr, dass die Poesie durch diese Operation verstummt. Der Einsatz ist sehr hoch; nachfolgend wird verdeutlicht, wie Paul Celan dieser Herausforderung begegnet.


Paul Celan: Eine Sprache an der Schwelle zum Verstummen

Bevor man die Sprache des aus der Bukowina stammenden Lyrikers Paul Celan  analysiert, muss man zwangsläufig den historischen Moment berücksichtigen, in dem er schreibt. Verschiedene Ereignisse von großer Tragweite prägten das 20. Jahrhundert, die Judenvernichtung markierte jedoch einen irreversiblen Bruch, der in Celans Gedichten zum Ausdruck kommt. Zahlreiche Begriffe werden verwendet, um sich auf die Katastrophe zu beziehen, doch Paul Celan entscheidet sich bewusst gegen Worte wie ‚Shoah‘ oder ‚Holocaust‘. Er wählt stattdessen Ausdrücke wie „das, was geschah“ (Celan et al. 1960:10) oder ähnliche Periphrasen, um sich auf die Massaker der Juden zu beziehen, wie Camilla Miglio anmerkt (vgl. Miglio 2021:65). So vage diese Formulierungen auch erscheinen mögen, sind sie doch in Celans Dichtung das Präziseste und zugleich Schmerzhafteste, was man sich vorstellen kann. Darin schreibt sich die Poetik dieses Autors ein.

Nun ist auch die sprachliche Fragestellung zu thematisieren. Gerade im Hinblick auf die jüdische Tragödie lässt sich das Verdikt des berühmten Philosophen Theodor W. Adorno verorten: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“ (Adorno 1955:31). In diesem Zusammenhang muss man auch betonen, dass dieses Verdikt, das oft apodiktisch wahrgenommen wurde, nicht als unwiderruflich zu verstehen ist, ganz im Gegenteil. Jean Bollack unterstreicht in dieser Hinsicht, dass Adorno selbst mehr als fünfmal auf diesen Satz zurückgekommen sei (vgl. Bollack 2000:118). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Haltung Celan gegenüber Adornos Mahnung einnimmt. Der Dichter akzeptiert Adornos Verdikt nicht in seiner wörtlichen Strenge und er glaubt, dass nach Auschwitz Gedichte zu schreiben nicht nur legitim, sondern notwendig ist (vgl. Miglio 2005:173f.). Die Frage ist aber, in welcher Sprache man Dichtung noch schreiben kann. Laut Celan gibt es eine conditio sine qua non, um nach dieser historischen Zäsur noch Dichtung zu ermöglichen: Die Sprache der Poesie muss sich tiefgreifend verändern. Welchen Weg muss die Sprache gehen? Kann sie überhaupt noch kommunizieren? Und wie? Im Folgenden werden die verschiedenen Möglichkeiten analysiert, die Celan ausschließt – die Sprache vor der Katastrophe und die Sprache seiner Gegenwart. Abschließend wird seine poetische Lösung vorgestellt. Klaus Voswinckel unterstreicht dies à propos von Celans Konzeption: „Die Ermordung des Worts hat ihr geschichtliches Datum. Sie geschah mit dem Völkermord“ (Voswinckel 1974:109). Aus diesem Zitat lässt sich feststellen, dass das Wort, genau wie Millionen Unschuldiger, ermordet wurde. Es wird sich im Weiteren zeigen, dass die Ermordung der Sprache die Voraussetzung dafür ist, wieder kommunizieren zu können. Die Zerstörung der bisherigen sprachlichen Ordnung ist laut Celan die notwendige Grundlage für eine kommunikationsfähige Poesie, wo die Spuren der Katastrophe wieder zu finden sind.

Wie bereits angedeutet, verlangt die Geschichte einen Wandel der Sprache: Die Katastrophe kann nicht ignoriert werden, und folglich muss auch die Sprache die historischen Spuren dieses verheerenden Ereignisses tragen. Paul Celan ist nämlich fest davon überzeugt, dass die ‚alte Sprache‘ steril ist und nicht mehr in der Lage ist, zu kommunizieren; daher nimmt er eine anspruchsvolle Aufgabe auf sich und wird zum Demiurgen einer neuen Sprache² (vgl. Manger 1995:9).

Um Celans Intentionen besser zu erläutern, ist es nützlich, eine Reflexion über die zeitgenössische Sprache des Dichters vorzunehmen und zu erklären, warum diese nicht mehr für das Dichten verwendet werden kann. Dafür ist es angemessen, auf einen Philologen zurückzugreifen: Victor Klemperer. In seinem Werk LTI: Notizbuch eines Philolo-gen³ (Klemperer 1996) kann man seinen Bericht über die Veränderungen der Sprache Tertii Imperii lesen, den er während der NS-Zeit führte. Aus dem Notizbuch geht hervor, dass diese Sprache leer geworden ist, die Wörter sich semantisch entleert haben; es bleibt nur – um es mit Saussure zu sagen – le signifiant, die Hülle des Wortes (vgl. Saussure 1967: 98-103). Klemperer stellt nämlich die Armut der LTI-Sprache fest (vgl. Klemperer 1996: 31). Im Kern der linguistischen Operation des dritten Reichs lässt sich ein Versuch erkennen, die Wahrheit zu verbergen, durch die Verwendung einer bürokratischen, standardisierten Sprache, besonders in Texten, die der Bevölkerung später zugänglich gemacht werden sollten⁴. Dies ist die Sprache, mit der Celan sich während der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen muss. Gerade daraus entsteht das Bedürfnis nach einer Umgestaltung der Sprache. Wie sollte man Gedichte in einer ‚armen‘ und gewalttätigen Sprache schreiben?

Bevor die an der Sprache vorzunehmende Operation vorgestellt wird, erfolgt eine kurze schematische Zusammenfassung der drei ausgeschlossenen Möglichkeiten und ihrer Begründungen. Das Schweigen, wie es Adorno in seinem erwähnten Verdikt formuliert, die Rückkehr zur vor der Tragödie gebräuchlichen Sprache und die Verwendung derselben Sprache, die Klemperer als inhaltsleer beschreibt, stellen für Celan keine poetische Lösung dar. Für ihn kommen alle drei Möglichkeiten nicht in Frage: Die ersten beiden werden a priori ausgeschlossen; Celan stimmt Adornos Urteil nicht zu, denn Schreiben wird als Notwendigkeit und Pflicht gesehen, und eine unbewusste Rückkehr zur alten Sprache ist ebenfalls undenkbar, da die Sprache der Poesie die Spuren der jüdischen Massaker in sich tragen muss. Was die dritte Möglichkeit angeht, ist für Celan der dichterische Schöpfungsprozess in einer leeren, sterilen Sprache selbstverständlich ebenfalls ausge-schlossen.

Welche Operation muss also an der Sprache vorgenommen werden? Man muss beginnen, in die Logik des Paradoxen einzudringen, denn Celans Sprachauffassung ist paradox, antilogisch. Diese Prämissen sind wesentlich, denn es sind die Toten – gerade diejenigen, die keine Stimme mehr haben – die in Celans Gedichten zu Wort kommen müssen. Gewiss handelt es sich um eine Herausforderung, die aber notwendig ist, wenn man dem Schweigen, das eine solche Situation erzwingen könnte, nicht nachgeben will. Gerade an dieser Stelle zeigt sich die Relevanz der Schwelle, um die sich dieser kurze Beitrag bewegt.

Celan schreibt in der Meridian-Rede: „[…] das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen“ (Celan 1999:8). Schon hier erweist sich dies als paradox, denn das Ziel der Dichtung wäre die Kommunikation, und nicht das Verstummen. In diesem Zusammenhang unterstreicht Camilla Miglio: „Celan [versteht] die Doxa […] als einen Akt der Umkehrung, der die Wirklichkeit am Paradoxon, am Sprung versteht, und die Wirklichkeit ad absurdum weiterdenkt“ (Miglio 2021:57). Diese Vorstellung gilt auch für die Sprache: Sie muss eine Liminalzone erreichen, eine Schwelle, die bis an die Grenze zwischen Kommunikation und Verstummen reicht. „Es ist Zeit, umzukehren“ so Celan (1999:10), damit die Sprache erneut zu kommunizieren vermag. Das Wort ‚Umkehr‘ ist auch im Sinne von Walter Benjamin zu verstehen: In seinem Aufsatz über Kafka, der Celan wohlbekannt war, schreibt nämlich der Literaturtheoretiker: „Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt“ (Benjamin 1989:437). Dieses Wort ist der Schlüssel zu Celans Dichtungsverständnis: Es ist hervorzuheben, dass hier der Begriff ‚Umkehr‘ im säkularisierten, nicht-religiösen Sinne verstanden wird, wie aus Camilla Miglios Behauptung hervorgeht: Die Einkehr, das ‚Zurückkehren zum Fremden‘, wird zu einer Umkehr, einer Hinwendung zu dem, was das eigene Judentum ausmacht – jedoch im poetischen, nicht im konfessionellen Sinn, im benjaminschen Verständnis der ‚Rückwendung‘ (vgl. Miglio 2005:190 f.). Es zeigt sich daher eine Involution der Sprache, die sich auf sich selbst zurückfaltet, sich einschließt, um sich wiederzufinden⁵. Es ist eine Dekonstruktion, eine Vernichtung der Sprache notwendig, bis an die Grenze des Verstummens: Gerade in dieser Schwellenzone findet sich paradoxerweise die Fruchtbarkeit der Sprache wieder. Celan nähert sich dem alchemistischen Prinzip des solve et coagula, das nicht nur die Titel zweier seiner Gedichte bildet, sondern zugleich eine Neu-Schöpfung aus dem Nichts und eine Neu-Schöpfung in der Sprache selbst bedeutet: Jedes einzelne Gedicht vollzieht sich als originäre Schöpfung, als beginne es jedes Mal am Nullpunkt (vgl. Miglio 2005:192); außerdem ist jedes Gedicht „einmalig, unwiederholbar“ (Celan 2005:132).

Es wurde festgestellt, dass Celan ab der Sammlung Von Schwelle zu Schwelle (1955) die Sprache in seinen Gedichten zunehmend thematisiert (vgl. Voswinckel 1974:117). Nun werden zwei Gedichte von Celan analysiert, um konkret zu zeigen, wie diese Schwellen-sprache selbst Thema seiner Dichtung wird: Das erste trägt den Titel Abend der Worte (Celan et al. 2018:81), das Entstehungsdatum ist nicht bekannt, veröffentlicht wurde es jedoch in Von Schwelle zu Schwelle; das zweite stammt aus Atemwende und heißt Weggebeizt (Celan et al. 2018:185); es ist im Jahr 1963 entstanden.

Abend der Worte

Abend der Worte – Rutengänger im Stillen!
Ein Schritt und noch einer,
ein dritter, des Spur
dein Schatten nicht tilgt:

die Narbe der Zeit
tut sich auf
und setzt das Land unter Blut –
Die Doggen der Wortnacht, die Doggen
schlagen nun an
mitten in dir:
sie feiern den wilderen Durst,
den wilderen Hunger …

Ein letzter Mond springt dir bei:
einen langen silbernen Knochen
– nackt wie der Weg, den du kamst –
wirft er unter die Meute,
doch rettets dich nicht:
der Strahl, den du wecktest,
schäumt naher heran,
und obenauf schwimmt eine Frucht,
in die du vor Jahren gebissen.

Bereits im Titel des Gedichts Abend der Worte tritt das Thema der Sprache hervor: Das Wort ‚Abend‘ verweist auf einen Abschluss, ein Ende, wie das Ende des Tages. Analog dazu kann auch das Ende der Worte interpretiert werden. Der Titel wird gleich im ersten Vers wieder aufgegriffen: „Abend der Worte – Rutengänger im Stillen!“: Rutengänger suchen normaler-weise verborgene Dinge wie Mineralien oder Wasserquellen, ebenso wie hier die Worte im Stillen vermutlich nach ihrer eigenen Bedeutung suchen. Setzt man diese Metapher fort, erkennt man in den folgenden Versen, dass ein langsames Herankommen der Worte („Ein Schritt und noch einer, / ein dritter“) an ihre Bedeutung stattfindet, doch plötzlich geschieht etwas: „die Narbe der Zeit / tut sich auf / und setzt das Land unter Blut“. Es wird also klar, dass die Worte nicht mehr ungestört nach ihrer Bedeutung suchen können. Dazu bemerkt Hermann Burger: „Diese Narbe zieht sich gleichsam mitten durch den Dichter hindurch. Blut bedeutet ja auch Geschlecht, und damit Schicksal. In einer Zeit zu leben und zu schreiben, in der die Muttersprache zur Sprache der Mörder der Mutter geworden ist“ (Burger 1974:92). Das ist genau ‚das, was war‘, das den Worten verhindert, eine Bedeutung zu finden, denn wie eine wieder aufgerissene Narbe blutet weiter und weiter. Deshalb ist eine Kommunikation wie früher nicht mehr möglich. Die folgenden Verse fallen schwerer zu interpretieren: Celan vergleicht das Wort mit aggressiven Jagdhunden („Doggen“), die unbarmherzig von innen angreifen, sie „feiern den wilderen Durst / den wilderen Hunger“. Diese gewalttätige Sprache lässt sich leicht mit der zuvor erwähnten Analyse der LTI von Klemperer in Verbindung bringen. In der letzten Strophe scheint ein Funken Hoffnung auf: „Ein letzter Mond springt dir bei“, „doch rettets dich nicht“. Dies kann als Hilfe von außen (in diesem Fall der Mond) gelesen werden, die zu retten versucht, doch aus dieser Katastrophe der Worte, des Lebens, gibt es kein Entrinnen. Es ist wie „eine Frucht, / in die du vor Jahren gebissen“: Hier kann es als etwas Vergangenes verstanden werden, das immer wiederkehrt, weil ‚das, was geschah‘ noch präsent ist.

Es lässt sich sagen, dass aus diesem Gedicht deutlich hervorgeht, dass „die Erschließung des Verschwiegenen nur über das schutzlose Offensein im Schmerz führen kann, daß die Inspiration Betroffenheit voraussetzt“ (Burger 1974:93). In der Tat sind Celans Gedichte immer persönlich. Zwar erzählen sie von der Katastrophe, doch gehen sie stets vom Autor selbst aus: Sie nehmen das persönliche Schicksal (die Ermordung der Eltern und sein enormes Leiden) als etwas Repräsentatives (vgl. Voswinckel 1974:53) und Allgemeines für das jüdische Volk. Abend der Worte ist unter anderem ein Zeugnis dafür, dass nur aus dem Schmerz die Schöpfung einer Poesie in Bewegung entsteht, die den Anderen erreichen kann. Es lässt sich feststellen, „[…] daß Celan die Sprache allgemein als bluterfüllten Organismus sieht. Der Wunde des Daseins entspricht in seiner Vorstellung eine Sprachwunde“ (Burger 1974:93).

Nun sei die sprachliche Dimension im Gedicht Weggebeizt in Betracht gezogen:

Weggebeizt

WEGGEBEIZT vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten – das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.

Aus-
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und  -tischen.

Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.

Es handelt sich um das letzte Gedicht der Sammlung Atemwende vom Jahr 1967, eigentlich wurde das Gedicht bereits 1965 im Zyklus Atemkristall mit Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange veröffentlicht (vgl. Burger 1974:111). Der Titel des Gedichts bezieht sich auf die Säurekorrosion, hier wird wieder auf die Technik der Radierung verwiesen, deren Meisterin Gisèle Lestrange war (vgl. Miglio 2005:244). Diese Korrosion wird auf die Sprache angewendet, wie im ersten Vers zu lesen ist: „Weggebeizt vom / Strahlenwind deiner Sprache“, hier deutet man auf eine fragmentarische Sprache hin, was sich klar im zersplitterten Stil des Gedichts zu finden ist. Celan zerlegt die Wörter absichtlich in diesem Gedicht. Dieser Vorgang deutet darauf hin, dass Celan sich gegen eine bestimmte Sprachweise wendet, in der die Tiefe der Bedeutung in den Hintergrund tritt. Urs Widmer unterstreicht in diesem Zusammenhang die Rhetorik und Schwülstigkeit der nationalsozialistischen Sprache, in der zahlreiche morphologische Neubildungen verwendet wurden und deren Gebrauch häufig semantisch umgewertet wurde (vgl. Widmer 1966: 28 f.): Eine Sprache, die für die Poesie nicht mehr geeignet ist. Gemeint ist damit immer eine Sprache, die nicht wirklich zu kommunizieren vermag und letztlich arm und leer bleibt – dieses Merkmal hat ebenfalls Klemperer erkannt.

Celan wendet sich gegen diese Sprachform und versucht, sie zu zerlegen. Damit wird erneut die Notwendigkeit deutlich, dieses stereotype „bunte Gerede“ zu zerstören: „das hundert-züngige Mein- / gedicht, das Genicht“. Durch ein Wortspiel verwandelt er das „Gedicht“ in seine eigene Negation: das „Genicht“. Das macht sichtbar, dass diese stereotype Sprache Poesie gar nicht erzeugen kann. Gleichzeitig zeigt sich, wie Uta Werner betont, dass „wenn die Oberflächenveränderung als Weg in die Tiefe erkennbar wird, […] sich »Weggebeizt« im Ungeschriebenen sprechend zu öffnen [beginnt]“ (Werner 1998:198), wodurch Celan vom Abbau leerer Sprache zu authentischem Ausdruck gelangt.

In der zweiten Strophe ist es unmöglich, den Schnee zu ignorieren, ein zentrales Element in Paul Celans Dichtung. Der Schnee hat „menschen- / gestaltigen“ Charakter; die Spuren der Toten sind im Schnee zu finden: Celan denkt an seine Mutter, „die er sich sterbend im Schnee der Ukraine vorstellt“ (Emmerich 2020:31). Celan spricht gleich danach vom „Büßerschnee“ und verkörpert in diesem Element die Erinnerung an die Katastrophe.

Die letzte Strophe schließt mit „dein unumstößliches / Zeugnis“, das sich gerade in diesem „Atemkristall“ findet: Die Toten können nur in diesem „Atemkristall“ erinnert werden – etwas außerordentlich Zerbrechliches, das standhält. Hermann Burger weist darauf hin, dass das Kompositum ‚Atemkristall‘, das in der 3. Strophe von Weggebeizt zu finden ist, alle Auf-fassungen Celans über die Natur einer gültigen Sprache vereint (vgl. Burger 1974:111). Genau das ist Celans Botschaft: Die von ihm gemeinte Sprache ist höchst fragil, ein ‚Atemkristall‘, der jederzeit zerbrechen und verstummen kann. Gerade in dieser Fragilität aber kann die Sprache laut Celan überhaupt erst wirklich sprechen, weil sie sich nicht hinter oberflächlichen Sprachspielen versteckt.

Diese beiden Gedichte sind das konkrete Zeugnis jener Sprache, aus der die Dichtung überhaupt bestehen muss: einer Sprache ‚an der Schwelle zwischen Kommunikation und Verstummen‘. Das Gedicht, das in einer solchen Sprache verfasst wird, ist, wie Celan sagt, „unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück“ (Celan 1999:8).

Schließlich, um zu den anfänglichen Fragen zurückzukehren, wurde demonstriert, dass die Sprache einen neuen Weg gehen muss, um wieder kommunizieren zu können: Sie muss ‚getötet‘ werden, eine Schwellenzone erreichen und dabei das Verstummen riskieren. Wie Menninghaus jedoch betont, ist das Schweigen als „formgeborene Implikation des postulierten Sprechens selbst erkennbar“ (Menninghaus 1980:47), das heißt, jedes Wort trägt einen Rand des Unsagbaren in sich: Fragmentierung der Sprache, Zäsuren, Pausen sind integraler Bestandteil der poetischen Form von Celan. „Die Frage, die Weinrich […] stellt, ob nämlich am Rande des Verstummens die Poesie anfängt oder aufhört, hat der Dichter durch sein Werk beantwortet“ (Rey 1970:751). Celan wählt also gerade die Liminalität der Schwelle als poetische Lösung. Diese ‚Sprache an der Schwelle‘ bildet für ihn den einzigen gangbaren Weg der Dichtung nach der Katastrophe. Diese Operation wurde am Beispiel von Abend der Worte und Weggebeizt konkret gezeigt.


Die Schwelle konkretisiert im Motiv der Nacht: Argumentum e silentio

Paul Celan wählt konkret die Nacht als einen liminalen Ort, an dem sich gegensätzliche Pole vereinen können. Ein prägnantes Beispiel für dieses Konzept bietet das Gedicht Argumentum e silentio (Celan et al. 2018:90).  Insbesondere wird deutlich, dass innerhalb dieser Verse zwei Gegensätze miteinander verbunden werden: Leben und Tod, Kommunikation und Ver-stummen.

Argumentum e silentio
                                            Für René Char
An die Kette gelegt
zwischen Gold und Vergessen:
die Nacht.
Beide griffen nach ihr.
Beide liess sie gewähren.

Lege,
lege auch du jetzt dorthin, was herauf-
dämmern will neben den Tagen:
das sternüberflogene Wort,
das meerübergoßne.

Jedem das Wort.
Jedem das Wort, das ihm sang,
als die Meute ihn hinterrücks anfiel –
Jedem das Wort, das ihm sang und erstarrte.

Ihr, der Nacht,
das sternüberflogne, das meerübergoßne,
ihr das erschwiegne,
dem das Blut nicht gerann, als der Giftzahn
die Silben durchstieß.

Ihr das erschwiegene Wort.

Wider die andern, die bald,
die umhurt von den Schinderohren,
auch Zeit und Zeiten erklimmen,
zeugt es zuletzt,
zuletzt, wenn nur Ketten erklingen,
zeugt es von ihr, die dort liegt
zwischen Gold und Vergessen,
beiden verschwistert von je –

Denn wo
dämmerts denn, sag, als bei ihr,
die im Stromgebiet ihrer Träne
tauchenden Sonnen die Saat zeigt
aber und abermals?

Die ersten Verse lauten: „An die Kette gelegt / zwischen Gold und Vergessen: / die Nacht“. Es ist bezeichnend, wie die Nacht zu einem Ort wird, an dem zwei Gegensätze zusammengeführt werden: Hier sind es „Gold“ und „Vergessen“, die sich ebenfalls als Leben-Tod-Opposition deuten lassen. Gold ist nämlich häufig ein Symbol für Reichtum, Sonne und Vitalität, das Vergessen verweist dagegen auf die Toten, die nicht mehr in Erinnerung sind. Grundsätzlich ist Celans Lyrik im Licht des Katastrophenmotivs zu lesen, wobei sich wahrscheinlich die ‚goldenen Zeiten‘ auf die Jahrhunderte vor dieser Tragödie beziehen und das Vergessen als Vernachlässigung der Verstorbenen verstanden werden kann.

Ein weiterer Gegensatz, den die nächtliche Dimension in sich trägt und der sich bereits aus dem Titel dieses Gedichts ergibt, ist der zwischen Kommunikation und Verstummen, einem Leitmotiv der Celanschen Dichtung, das sich – wie bereits betont – „am Rande seiner selbst“ (Celan 1999:8) entfaltet. Dies wird auch in den folgenden Versen des Gedichts deutlich: „Ihr, der Nacht, / das sternüberflogne, das meerübergossne, / ihr das erschwiegne, / dem das Blut nicht gerann, als der Giftzahn / die Silben durchstiess. / Ihr das erschwiegene Wort“. Das Wort scheint gespannt zu sein zwischen Himmel und Abgrund, zwischen den Sternen und vom Meer überflutet; diese Atmosphäre, die romantisch anmuten könnte, wird sofort abrupt durch die Katastrophe unterbrochen: Die Silben werden durchstoßen. Man taucht unmittelbar in Celans Poetik ein, in der Trauma und Erinnerung die zentralen Elemente bilden. Es handelt sich nicht um eine direkte und fließende Kommunikation. In diesem Kontext ist das Wort ‚erschwiegen‘ unauflöslich mit dem Schweigen verbunden: Hier, in der Nacht, vollzieht sich die Überwindung des Gegensatzes „Ihr das erschwiegene Wort“. „Ihr“ bezieht sich auf die Nacht; dort erfolgt die einzige Möglichkeit zu sprechen: durch das Schweigen. In diesem Paradoxon entfaltet sich die gesamte Poetik Paul Celans: Ein Wort, das aus dem Schweigen und aus der enormen Anstrengung der Sprache entsteht.


Fazit

Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht das Konzept der Schwelle als liminaler Ort zwischen zwei Elementen. Zunächst wurde ein kurzer etymologischer und semantischer Exkurs präsentiert, wobei die Definitionen von ‚Schwelle‘ und ihre damit verbundenen Bedeutungen im Mittelpunkt standen. Anschließend wurde dargelegt, dass dieses Konzept zentral für die poetische Operation des Dichters Paul Celan ist. Nach der Tragödie der Shoah musste die Sprache verändert werden, und dem Dichter gelang es nur noch, im Schwellenraum zwischen Kommunikation und Verstummen wieder schreiben zu können.

Bevor die von Celan gewählte Lösung gezeigt wird, wurden drei verschiedene (Un)Mög-lichkeiten untersucht, Gedichte zu verfassen: Erstens wurde das Verdikt von Theodor W. Adorno verworfen, weil laut Celan das Schweigen keine Option war; zweitens wurde die unbewusste Rückkehr zur Sprache vor dem Holocaust ebenfalls ausgeschlossen, da die Spuren der Geschichte in der Dichtung erkennbar sein müssen; drittens wurde die entleerte und sterile Sprache, die zur Zeit Celans herrschte, als poetischer Ansatz ignoriert, auch weil die semantische Entleerung gerade vom Dritten Reich durchgeführt worden war.

Welche Lösung schlägt Celan also vor? Die ‚Ermordung der Sprache‘, die Rückwendung auf sich selbst, mit der Gefahr, zu verstummen. Nur in dieser Schwellenzone kann man wieder Poesie schreiben. Diese Vorgehensweise ist in seinen Texten sichtbar; ausgewählt wurden Abend der Worte und Weggebeizt als konkrete Zeugnisse. Schließlich zeigte sich, dass es eine Dimension gibt, die die Schwelle am besten verkörpert: die Nacht. In Argumentum e silentio wurde demonstriert, wie die Vereinigung gegensätzlicher Pole in der Nacht realisierbar ist: Verbindung von Leben und Tod, von Kommunikation und Verstummen.

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Schwelle ein fragiler Ort ist, an dem man das Überschreiten riskiert. Für Celans Dichtung ist es jedoch notwendig, dieses Risiko zu tragen: Seine radikale Umgestaltung der Sprache ist anspruchsvoll und schmerzhaft, aber nur auf diesem Weg kann nach der Katastrophe wieder Poesie entstehen. Darüber hinaus bietet die Untersuchung der Schwelle lohnende Anknüpfungspunkte für vergleichende Studien zur Liminalität bei anderen Autorinnen und Autoren, die gezwungen sind, eine veränderte Sprache zu verwenden, um traumatische Erfahrungen wie die Judenvernichtung auszu-drücken.


Literaturverzeichnis

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¹ Sämtliche Verweise auf diesen Begriff finden sich in: „Schwelle“ in: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften,
https://www.dwds.de/wb/etymwb/Schwelle (Stand: 9.12.2025).
² Wie Klaus Manger betont, Celans poetischer Imperativ „machs Wort aus“ verlangt, das dichterische Wort neu auszumachen. Vgl. Manger, Klaus: „… mach’s Wort aus.“ Celans poetischer Imperativ. In: Speier, Hans-Michael (Hrsg.) (1995): Celan-Jahrbuch. C. Winter, Heidelberg, S. 7–24, hier S. 9.
³ Man bezieht sich auf: Klemperer, Victor (1996): LTI: Notizbuch eines Philologen. 15. Aufl., Reclam Verlag, Leipzig.
Dies ist die Absicht der Machthaber; Klemperer betont jedoch, dass gerade die Sprache dazu fähig ist, das ans Licht zu bringen, was man verborgen will: „Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor anderen, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag“. Ebd. S. 21.
Siehe dazu auch das editorische Vorwort zum Meridian (a.a.O.), S. XIII.
Dies ist ein Aspekt, der in Celans Lyrik nicht zu unterschätzen ist. Häufig nimmt er Bezug auf geologische Veränderungen des Bodens, die auf die Präsenz der Toten hinweisen, die, da sie nicht bestattet wurden, sich mit Erde und Gestein vermischt haben. Diese Vernachlässigung erträgt Celan nicht. Die Germanistin Uta Werner hebt in diesem Zusammenhang hervor: „Wie in Sedimenten und Versteinerungen die Natur ihre Geschichte semiotisch festhält, so versteht sich der Raum des Celan-Gedichts als eine geschichtete Textlandschaft. Er formt den Ort eines historischen Gedächtnisses“ (Werner, Uta (1998): Textgräber: Paul Celans geologische Lyrik. Fink, München, S. 7). Celan selbst erläutert in einem Brief an Ingeborg Bachmann die Funktion seines bekannten Gedichts Todesfuge, die als „eine Grabschrift und ein Grab“ für ihn ist. (Celan, Paul / Bachmann, Ingeborg (2008): Herzzeit. Der Briefwechsel. Frankfurt am Main, S. 126).


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