Serena Kathrin Lanfranchi: Die Schwelle als poetisches Prinzip: Der Fall Paul Celans
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Serena Kathrin Lanfranchi
Die Schwelle als poetisches Prinzip: Der
Fall Paul Celans
Einleitung
Ziel dieses kurzen
Beitrags ist es, das Konzept der ‚Schwelle‘ in der Dichtung von Paul Celan
(1920–1970) zu untersuchen. Zunächst wird ein etymologischer sowie semantischer
Exkurs angeboten, um den Begriff besser einzuordnen. Dann wird die Relevanz
dieses Begriffs für die poetische Vorgehensweise des Dichters Paul Celan näher
betrachtet. Danach wird diskutiert, ob und wie es nach dem Holocaust möglich
ist, wieder Poesie zu schreiben. Nachdem einige Dichtungsversuche
ausgeschlossen worden sind, wird die radikale poetische Sprachoperation von
Paul Celan analysiert, mit der die Sprache wieder zur Kommunikation
zurückgeführt werden soll. In diesem Sinne bildet gerade die riskante
Schwellenzone einen fruchtbaren Boden.
Um seine poetische
Vorgehensweise besser zu verstehen, werden methodisch zwei Texte vorgestellt,
in denen die Sprache selbst zum Thema der Verse wird: Abend der Worte und
Weggebeizt. Schließlich wird eine liminale Dimension identifiziert, in
der eine Synthese gegensätzlicher Pole möglich ist: die Nacht. Das ist
besonders im Gedicht Argumentum e silentio erkennbar, das ebenso
analysiert wird.
Abschließend lässt sich
feststellen, dass die Schwelle ein fragiler Ort ist, an dem man das
Überschreiten – in diesem Fall das Verstummen – riskiert. Für Celans Dichtung
ist es jedoch notwendig, dieses Risiko einzugehen: Die von ihm unternommene
radikale Transformation der Sprache ist mühsam und schmerzhaft, doch nur durch
diese Anstrengung kann nach der Katastrophe wieder Poesie entstehen.
Etymologie und
Begriff der Schwelle
Was ist mit dem
Terminus ‚Schwelle‘ gemeint? Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gibt
an, dass – auch wenn seine etymologische Herkunft aus dem Germanischen
umstritten bleibt – sich ‚Schwelle‘ zunächst auf einen „waagerecht liegenden
Balken“ bezieht, häufig als untere Begrenzung eines Türrahmens. Das Wort hat im
weiteren Verlauf eine metaphorische Bedeutung erhalten, nämlich etwas, das zwei
Elemente oder Orte trennt. Weiter ist im Wörterbuch zu lesen, dass sich dieser
Begriff später in der Literatursprache entwickelt hat und mit der Bedeutung „Grenze,
an der etwas beginnt oder endet“¹ verwendet wird. Das ist der übertragene Sinn, der diesem Wort oft zugeschrieben
wird; dieses Konzept der Grenze entspricht dem, was die Lateiner mit dem Wort
‚limen‘ bezeichneten. Spuren dieser Etymologie sind auch im Deutschen zu
finden, etwa in Adjektiven wie ‚liminal‘.
In diesem Beitrag wird gezeigt,
wie das Konzept der Schwelle eine Schlüsselrolle in der Dichtung von Paul Celan
einnimmt. Der Dichter sieht sich im Post-Shoah-Szenario gezwungen, einen neuen
Zugang zur Sprache zu suchen, um wieder Gedichte schreiben zu können. Im
Folgenden wird festgestellt, dass seine Sprache gezwungen ist, sich gerade in
diesem liminalen Raum zu entwickeln, stets an der Schwelle zwischen zwei Polen,
wobei sich im Fall der Dichtung diese Schwelle zwischen Kommunikation und
Verstummen konkretisiert. Diese Zone birgt auch ein gewisses Risiko: das
Überschreiten, und in diesem Fall die Gefahr, dass die Poesie durch diese Operation
verstummt. Der Einsatz ist sehr hoch; nachfolgend wird verdeutlicht, wie Paul
Celan dieser Herausforderung begegnet.
Paul Celan:
Eine Sprache an der Schwelle zum Verstummen
Bevor man die Sprache
des aus der Bukowina stammenden Lyrikers Paul Celan analysiert, muss man zwangsläufig den
historischen Moment berücksichtigen, in dem er schreibt. Verschiedene
Ereignisse von großer Tragweite prägten das 20. Jahrhundert, die
Judenvernichtung markierte jedoch einen irreversiblen Bruch, der in Celans
Gedichten zum Ausdruck kommt. Zahlreiche Begriffe werden verwendet, um sich auf
die Katastrophe zu beziehen, doch Paul Celan entscheidet sich bewusst gegen
Worte wie ‚Shoah‘ oder ‚Holocaust‘. Er wählt stattdessen Ausdrücke wie „das,
was geschah“ (Celan et al. 1960:10) oder ähnliche Periphrasen, um sich auf die
Massaker der Juden zu beziehen, wie Camilla Miglio anmerkt (vgl. Miglio
2021:65). So vage diese Formulierungen auch erscheinen mögen, sind sie doch in
Celans Dichtung das Präziseste und zugleich Schmerzhafteste, was man sich
vorstellen kann. Darin schreibt sich die Poetik dieses Autors ein.
Nun ist auch die
sprachliche Fragestellung zu thematisieren. Gerade im Hinblick auf die jüdische
Tragödie lässt sich das Verdikt des berühmten Philosophen Theodor W. Adorno
verorten: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur
und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist
barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich
ward, heute Gedichte zu schreiben“ (Adorno 1955:31). In diesem Zusammenhang
muss man auch betonen, dass dieses Verdikt, das oft apodiktisch wahrgenommen
wurde, nicht als unwiderruflich zu verstehen ist, ganz im Gegenteil. Jean
Bollack unterstreicht in dieser Hinsicht, dass Adorno selbst mehr als fünfmal
auf diesen Satz zurückgekommen sei (vgl. Bollack 2000:118). Vor diesem
Hintergrund stellt sich die Frage, welche Haltung Celan gegenüber Adornos
Mahnung einnimmt. Der Dichter akzeptiert Adornos Verdikt nicht in seiner wörtlichen
Strenge und er glaubt, dass nach Auschwitz Gedichte zu schreiben nicht nur
legitim, sondern notwendig ist (vgl. Miglio 2005:173f.). Die Frage ist aber, in
welcher Sprache man Dichtung noch schreiben kann. Laut Celan gibt es eine conditio
sine qua non, um nach dieser historischen Zäsur noch Dichtung zu ermöglichen:
Die Sprache der Poesie muss sich tiefgreifend verändern. Welchen Weg muss die
Sprache gehen? Kann sie überhaupt noch kommunizieren? Und wie? Im Folgenden
werden die verschiedenen Möglichkeiten analysiert, die Celan ausschließt – die
Sprache vor der Katastrophe und die Sprache seiner Gegenwart. Abschließend wird
seine poetische Lösung vorgestellt. Klaus Voswinckel unterstreicht dies à
propos von Celans Konzeption: „Die Ermordung des Worts hat ihr
geschichtliches Datum. Sie geschah mit dem Völkermord“ (Voswinckel 1974:109).
Aus diesem Zitat lässt sich feststellen, dass das Wort, genau wie Millionen
Unschuldiger, ermordet wurde. Es wird sich im Weiteren zeigen, dass die
Ermordung der Sprache die Voraussetzung dafür ist, wieder kommunizieren zu
können. Die Zerstörung der bisherigen sprachlichen Ordnung ist laut Celan die
notwendige Grundlage für eine kommunikationsfähige Poesie, wo die Spuren der
Katastrophe wieder zu finden sind.
Wie bereits angedeutet,
verlangt die Geschichte einen Wandel der Sprache: Die Katastrophe kann nicht
ignoriert werden, und folglich muss auch die Sprache die historischen Spuren
dieses verheerenden Ereignisses tragen. Paul Celan ist nämlich fest davon überzeugt,
dass die ‚alte Sprache‘ steril ist und nicht mehr in der Lage ist, zu
kommunizieren; daher nimmt er eine anspruchsvolle Aufgabe auf sich und wird zum
Demiurgen einer neuen Sprache² (vgl. Manger 1995:9).
Um Celans Intentionen
besser zu erläutern, ist es nützlich, eine Reflexion über die zeitgenössische
Sprache des Dichters vorzunehmen und zu erklären, warum diese nicht mehr für
das Dichten verwendet werden kann. Dafür ist es angemessen, auf einen
Philologen zurückzugreifen: Victor Klemperer. In seinem Werk LTI: Notizbuch
eines Philolo-gen³ (Klemperer 1996) kann man seinen Bericht über die Veränderungen der Sprache
Tertii Imperii lesen, den er während der NS-Zeit führte. Aus dem
Notizbuch geht hervor, dass diese Sprache leer geworden ist, die Wörter sich
semantisch entleert haben; es bleibt nur – um es mit Saussure zu sagen – le
signifiant, die Hülle des Wortes (vgl. Saussure 1967: 98-103). Klemperer
stellt nämlich die Armut der LTI-Sprache fest (vgl. Klemperer 1996: 31). Im
Kern der linguistischen Operation des dritten Reichs lässt sich ein Versuch
erkennen, die Wahrheit zu verbergen, durch die Verwendung einer bürokratischen,
standardisierten Sprache, besonders in Texten, die der Bevölkerung später
zugänglich gemacht werden sollten⁴. Dies ist die Sprache, mit der Celan sich während der Zeit des
Nationalsozialismus auseinandersetzen muss. Gerade daraus entsteht das
Bedürfnis nach einer Umgestaltung der Sprache. Wie sollte man Gedichte in einer
‚armen‘ und gewalttätigen Sprache schreiben?
Bevor die an der
Sprache vorzunehmende Operation vorgestellt wird, erfolgt eine kurze
schematische Zusammenfassung der drei ausgeschlossenen Möglichkeiten und ihrer
Begründungen. Das Schweigen, wie es Adorno in seinem erwähnten Verdikt
formuliert, die Rückkehr zur vor der Tragödie gebräuchlichen Sprache und die
Verwendung derselben Sprache, die Klemperer als inhaltsleer beschreibt, stellen
für Celan keine poetische Lösung dar. Für ihn kommen alle drei Möglichkeiten
nicht in Frage: Die ersten beiden werden a priori ausgeschlossen; Celan stimmt
Adornos Urteil nicht zu, denn Schreiben wird als Notwendigkeit und Pflicht
gesehen, und eine unbewusste Rückkehr zur alten Sprache ist ebenfalls
undenkbar, da die Sprache der Poesie die Spuren der jüdischen Massaker in sich tragen
muss. Was die dritte Möglichkeit angeht, ist für Celan der dichterische
Schöpfungsprozess in einer leeren, sterilen Sprache selbstverständlich
ebenfalls ausge-schlossen.
Welche Operation muss
also an der Sprache vorgenommen werden? Man muss beginnen, in die Logik des
Paradoxen einzudringen, denn Celans Sprachauffassung ist paradox, antilogisch.
Diese Prämissen sind wesentlich, denn es sind die Toten – gerade diejenigen,
die keine Stimme mehr haben – die in Celans Gedichten zu Wort kommen müssen. Gewiss
handelt es sich um eine Herausforderung, die aber notwendig ist, wenn man dem
Schweigen, das eine solche Situation erzwingen könnte, nicht nachgeben will. Gerade
an dieser Stelle zeigt sich die Relevanz der Schwelle, um die sich dieser kurze
Beitrag bewegt.
Celan schreibt in der Meridian-Rede:
„[…] das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum
Verstummen“ (Celan 1999:8). Schon hier erweist sich dies als paradox, denn das
Ziel der Dichtung wäre die Kommunikation, und nicht das Verstummen. In diesem
Zusammenhang unterstreicht Camilla Miglio: „Celan [versteht] die Doxa […] als
einen Akt der Umkehrung, der die Wirklichkeit am Paradoxon, am Sprung versteht,
und die Wirklichkeit ad absurdum weiterdenkt“ (Miglio 2021:57). Diese
Vorstellung gilt auch für die Sprache: Sie muss eine Liminalzone erreichen,
eine Schwelle, die bis an die Grenze zwischen Kommunikation und Verstummen
reicht. „Es ist Zeit, umzukehren“ so Celan (1999:10), damit die Sprache erneut
zu kommunizieren vermag. Das Wort ‚Umkehr‘ ist auch im Sinne von Walter
Benjamin zu verstehen: In seinem Aufsatz über Kafka, der Celan wohlbekannt war,
schreibt nämlich der Literaturtheoretiker: „Umkehr ist die Richtung des
Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt“ (Benjamin 1989:437). Dieses
Wort ist der Schlüssel zu Celans Dichtungsverständnis: Es ist hervorzuheben,
dass hier der Begriff ‚Umkehr‘ im säkularisierten, nicht-religiösen Sinne
verstanden wird, wie aus Camilla Miglios Behauptung hervorgeht: Die Einkehr,
das ‚Zurückkehren zum Fremden‘, wird zu einer Umkehr, einer Hinwendung zu dem,
was das eigene Judentum ausmacht – jedoch im poetischen, nicht im
konfessionellen Sinn, im benjaminschen Verständnis der ‚Rückwendung‘ (vgl.
Miglio 2005:190 f.). Es zeigt sich daher eine Involution der Sprache, die sich
auf sich selbst zurückfaltet, sich einschließt, um sich wiederzufinden⁵. Es ist eine Dekonstruktion, eine Vernichtung der Sprache notwendig, bis an die
Grenze des Verstummens: Gerade in dieser Schwellenzone findet sich
paradoxerweise die Fruchtbarkeit der Sprache wieder. Celan nähert sich dem
alchemistischen Prinzip des solve et coagula, das nicht nur die Titel
zweier seiner Gedichte bildet, sondern zugleich eine Neu-Schöpfung aus dem
Nichts und eine Neu-Schöpfung in der Sprache selbst bedeutet: Jedes einzelne
Gedicht vollzieht sich als originäre Schöpfung, als beginne es jedes Mal am
Nullpunkt (vgl. Miglio 2005:192); außerdem ist jedes Gedicht „einmalig,
unwiederholbar“ (Celan 2005:132).
Es wurde festgestellt,
dass Celan ab der Sammlung Von Schwelle zu Schwelle (1955) die Sprache
in seinen Gedichten zunehmend thematisiert (vgl. Voswinckel 1974:117). Nun
werden zwei Gedichte von Celan analysiert, um konkret zu zeigen, wie diese Schwellen-sprache
selbst Thema seiner Dichtung wird: Das erste trägt den Titel Abend der Worte
(Celan et al. 2018:81), das Entstehungsdatum ist nicht bekannt, veröffentlicht
wurde es jedoch in Von Schwelle zu Schwelle; das zweite stammt aus Atemwende
und heißt Weggebeizt (Celan et al. 2018:185); es ist im Jahr 1963
entstanden.
Abend der WorteAbend der Worte – Rutengänger im Stillen!Ein Schritt und noch einer,ein dritter, des Spurdein Schatten nicht tilgt:die Narbe der Zeittut sich aufund setzt das Land unter Blut –Die Doggen der Wortnacht, die Doggenschlagen nun anmitten in dir:sie feiern den wilderen Durst,den wilderen Hunger …
Ein letzter Mond springt dir bei:einen langen silbernen Knochen– nackt wie der Weg, den du kamst –wirft er unter die Meute,doch rettets dich nicht:der Strahl, den du wecktest,schäumt naher heran,und obenauf schwimmt eine Frucht,in die du vor Jahren gebissen.
Bereits im Titel des Gedichts Abend
der Worte tritt das Thema der Sprache hervor: Das Wort ‚Abend‘ verweist auf
einen Abschluss, ein Ende, wie das Ende des Tages. Analog dazu kann auch das
Ende der Worte interpretiert werden. Der Titel wird gleich im ersten Vers
wieder aufgegriffen: „Abend der Worte – Rutengänger im Stillen!“: Rutengänger
suchen normaler-weise verborgene Dinge wie Mineralien oder Wasserquellen, ebenso
wie hier die Worte im Stillen vermutlich nach ihrer eigenen Bedeutung suchen.
Setzt man diese Metapher fort, erkennt man in den folgenden Versen, dass ein
langsames Herankommen der Worte („Ein Schritt und noch einer, / ein dritter“)
an ihre Bedeutung stattfindet, doch plötzlich geschieht etwas: „die Narbe der
Zeit / tut sich auf / und setzt das Land unter Blut“. Es wird also klar, dass
die Worte nicht mehr ungestört nach ihrer Bedeutung suchen können. Dazu bemerkt
Hermann Burger: „Diese Narbe zieht sich gleichsam mitten durch den Dichter
hindurch. Blut bedeutet ja auch Geschlecht, und damit Schicksal. In einer Zeit
zu leben und zu schreiben, in der die Muttersprache zur Sprache der Mörder der
Mutter geworden ist“ (Burger 1974:92). Das ist genau ‚das, was war‘, das den
Worten verhindert, eine Bedeutung zu finden, denn wie eine wieder aufgerissene
Narbe blutet weiter und weiter. Deshalb ist eine Kommunikation wie früher nicht
mehr möglich. Die folgenden Verse fallen schwerer zu interpretieren: Celan
vergleicht das Wort mit aggressiven Jagdhunden („Doggen“), die unbarmherzig von
innen angreifen, sie „feiern den wilderen Durst / den wilderen Hunger“. Diese
gewalttätige Sprache lässt sich leicht mit der zuvor erwähnten Analyse der LTI
von Klemperer in Verbindung bringen. In der letzten Strophe scheint ein Funken
Hoffnung auf: „Ein letzter Mond springt dir bei“, „doch rettets dich nicht“.
Dies kann als Hilfe von außen (in diesem Fall der Mond) gelesen werden, die zu
retten versucht, doch aus dieser Katastrophe der Worte, des Lebens, gibt es
kein Entrinnen. Es ist wie „eine Frucht, / in die du vor Jahren gebissen“: Hier
kann es als etwas Vergangenes verstanden werden, das immer wiederkehrt, weil
‚das, was geschah‘ noch präsent ist.
Es lässt sich sagen,
dass aus diesem Gedicht deutlich hervorgeht, dass „die Erschließung des
Verschwiegenen nur über das schutzlose Offensein im Schmerz führen kann, daß
die Inspiration Betroffenheit voraussetzt“ (Burger 1974:93). In der Tat sind
Celans Gedichte immer persönlich. Zwar erzählen sie von der Katastrophe, doch
gehen sie stets vom Autor selbst aus: Sie nehmen das persönliche Schicksal (die
Ermordung der Eltern und sein enormes Leiden) als etwas Repräsentatives (vgl.
Voswinckel 1974:53) und Allgemeines für das jüdische Volk. Abend der Worte
ist unter anderem ein Zeugnis dafür, dass nur aus dem Schmerz die Schöpfung
einer Poesie in Bewegung entsteht, die den Anderen erreichen kann. Es lässt
sich feststellen, „[…] daß Celan die Sprache allgemein als bluterfüllten
Organismus sieht. Der Wunde des Daseins entspricht in seiner Vorstellung eine
Sprachwunde“ (Burger 1974:93).
Nun sei die sprachliche Dimension im Gedicht Weggebeizt in
Betracht gezogen:
WeggebeiztWEGGEBEIZT vomStrahlenwind deiner Sprachedas bunte Gerede des An-erlebten – das hundert-züngige Mein-gedicht, das Genicht.
Aus-gewirbelt,freider Weg durch den menschen-gestaltigen Schnee,den Büßerschnee, zuden gastlichenGletscherstuben und -tischen.
Tiefin der Zeitenschrunde,beimWabeneiswartet, ein Atemkristall,dein unumstößlichesZeugnis.
Es handelt sich um das letzte
Gedicht der Sammlung Atemwende vom Jahr 1967, eigentlich wurde das
Gedicht bereits 1965 im Zyklus Atemkristall mit Radierungen von Gisèle
Celan-Lestrange veröffentlicht (vgl. Burger 1974:111). Der Titel des Gedichts
bezieht sich auf die Säurekorrosion, hier wird wieder auf die Technik der
Radierung verwiesen, deren Meisterin Gisèle Lestrange war (vgl. Miglio
2005:244). Diese Korrosion wird auf die Sprache angewendet, wie im ersten Vers
zu lesen ist: „Weggebeizt vom / Strahlenwind deiner Sprache“, hier deutet man
auf eine fragmentarische Sprache hin, was sich klar im zersplitterten Stil des
Gedichts zu finden ist. Celan zerlegt die Wörter absichtlich in diesem Gedicht.
Dieser Vorgang deutet darauf hin, dass Celan sich gegen eine bestimmte
Sprachweise wendet, in der die Tiefe der Bedeutung in den Hintergrund tritt. Urs Widmer unterstreicht in diesem Zusammenhang die
Rhetorik und Schwülstigkeit der nationalsozialistischen Sprache, in der
zahlreiche morphologische Neubildungen verwendet wurden und deren Gebrauch
häufig semantisch umgewertet wurde (vgl. Widmer 1966: 28 f.): Eine Sprache, die für die Poesie nicht mehr geeignet ist.
Gemeint ist damit immer eine Sprache, die nicht wirklich zu kommunizieren
vermag und letztlich arm und leer bleibt – dieses Merkmal hat ebenfalls
Klemperer erkannt.
Celan wendet sich gegen
diese Sprachform und versucht, sie zu zerlegen. Damit wird erneut die
Notwendigkeit deutlich, dieses stereotype „bunte Gerede“ zu zerstören: „das hundert-züngige
Mein- / gedicht, das Genicht“. Durch ein Wortspiel verwandelt er das „Gedicht“
in seine eigene Negation: das „Genicht“. Das macht sichtbar, dass diese
stereotype Sprache Poesie gar nicht erzeugen kann. Gleichzeitig zeigt sich, wie
Uta Werner betont, dass „wenn die Oberflächenveränderung als Weg in die Tiefe
erkennbar wird, […] sich »Weggebeizt« im Ungeschriebenen sprechend zu öffnen
[beginnt]“ (Werner 1998:198), wodurch Celan vom Abbau leerer Sprache zu
authentischem Ausdruck gelangt.
In der zweiten Strophe
ist es unmöglich, den Schnee zu ignorieren, ein zentrales Element in Paul
Celans Dichtung. Der Schnee hat „menschen- / gestaltigen“ Charakter; die Spuren
der Toten sind im Schnee zu finden: Celan denkt an seine Mutter, „die er sich
sterbend im Schnee der Ukraine vorstellt“ (Emmerich 2020:31). Celan spricht
gleich danach vom „Büßerschnee“ und verkörpert in diesem Element die Erinnerung
an die Katastrophe.
Die letzte Strophe
schließt mit „dein unumstößliches / Zeugnis“, das sich gerade in diesem
„Atemkristall“ findet: Die Toten können nur in diesem „Atemkristall“ erinnert
werden – etwas außerordentlich Zerbrechliches, das standhält. Hermann Burger
weist darauf hin, dass das Kompositum ‚Atemkristall‘, das in der 3. Strophe von
Weggebeizt zu finden ist, alle Auf-fassungen Celans über die Natur einer
gültigen Sprache vereint (vgl. Burger 1974:111). Genau das ist Celans
Botschaft: Die von ihm gemeinte Sprache ist höchst fragil, ein ‚Atemkristall‘,
der jederzeit zerbrechen und verstummen kann. Gerade in dieser Fragilität aber
kann die Sprache laut Celan überhaupt erst wirklich sprechen, weil sie sich
nicht hinter oberflächlichen Sprachspielen versteckt.
Diese beiden Gedichte
sind das konkrete Zeugnis jener Sprache, aus der die Dichtung überhaupt
bestehen muss: einer Sprache ‚an der Schwelle zwischen Kommunikation und
Verstummen‘. Das Gedicht, das in einer solchen Sprache verfasst wird, ist, wie
Celan sagt, „unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück“
(Celan 1999:8).
Schließlich, um zu den
anfänglichen Fragen zurückzukehren, wurde demonstriert, dass die Sprache einen
neuen Weg gehen muss, um wieder kommunizieren zu können: Sie muss ‚getötet‘
werden, eine Schwellenzone erreichen und dabei das Verstummen riskieren. Wie
Menninghaus jedoch betont, ist das Schweigen als „formgeborene Implikation des
postulierten Sprechens selbst erkennbar“ (Menninghaus 1980:47), das heißt,
jedes Wort trägt einen Rand des Unsagbaren in sich: Fragmentierung der Sprache,
Zäsuren, Pausen sind integraler Bestandteil der poetischen Form von Celan. „Die
Frage, die Weinrich […] stellt, ob nämlich am Rande des Verstummens die Poesie
anfängt oder aufhört, hat der Dichter durch sein Werk beantwortet“ (Rey
1970:751). Celan wählt also gerade die Liminalität der Schwelle als poetische
Lösung. Diese ‚Sprache an der Schwelle‘ bildet für ihn den einzigen gangbaren
Weg der Dichtung nach der Katastrophe. Diese Operation wurde am Beispiel von Abend
der Worte und Weggebeizt konkret gezeigt.
Die Schwelle
konkretisiert im Motiv der Nacht: Argumentum e silentio
Paul Celan wählt konkret
die Nacht als einen liminalen Ort, an dem sich gegensätzliche Pole vereinen
können. Ein prägnantes Beispiel für dieses Konzept bietet das Gedicht Argumentum
e silentio (Celan et al. 2018:90). Insbesondere wird deutlich, dass innerhalb
dieser Verse zwei Gegensätze miteinander verbunden werden: Leben und Tod,
Kommunikation und Ver-stummen.
Argumentum e silentioFür René CharAn die Kette gelegtzwischen Gold und Vergessen:die Nacht.Beide griffen nach ihr.Beide liess sie gewähren.Lege,lege auch du jetzt dorthin, was herauf-dämmern will neben den Tagen:das sternüberflogene Wort,das meerübergoßne.
Jedem das Wort.Jedem das Wort, das ihm sang,als die Meute ihn hinterrücks anfiel –Jedem das Wort, das ihm sang und erstarrte.Ihr, der Nacht,das sternüberflogne, das meerübergoßne,ihr das erschwiegne,dem das Blut nicht gerann, als der Giftzahndie Silben durchstieß.
Ihr das erschwiegene Wort.Wider die andern, die bald,die umhurt von den Schinderohren,auch Zeit und Zeiten erklimmen,zeugt es zuletzt,zuletzt, wenn nur Ketten erklingen,zeugt es von ihr, die dort liegtzwischen Gold und Vergessen,beiden verschwistert von je –
Denn wodämmerts denn, sag, als bei ihr,die im Stromgebiet ihrer Tränetauchenden Sonnen die Saat zeigtaber und abermals?
Die ersten Verse
lauten: „An die Kette gelegt / zwischen Gold und Vergessen: / die Nacht“. Es
ist bezeichnend, wie die Nacht zu einem Ort wird, an dem zwei Gegensätze
zusammengeführt werden: Hier sind es „Gold“ und „Vergessen“, die sich ebenfalls
als Leben-Tod-Opposition deuten lassen. Gold ist nämlich häufig ein Symbol für
Reichtum, Sonne und Vitalität, das Vergessen verweist dagegen auf die Toten,
die nicht mehr in Erinnerung sind. Grundsätzlich ist Celans Lyrik im Licht des
Katastrophenmotivs zu lesen, wobei sich wahrscheinlich die ‚goldenen Zeiten‘
auf die Jahrhunderte vor dieser Tragödie beziehen und das Vergessen als
Vernachlässigung der Verstorbenen⁶ verstanden werden kann.
Ein weiterer Gegensatz,
den die nächtliche Dimension in sich trägt und der sich bereits aus dem Titel
dieses Gedichts ergibt, ist der zwischen Kommunikation und Verstummen, einem
Leitmotiv der Celanschen Dichtung, das sich – wie bereits betont – „am Rande
seiner selbst“ (Celan 1999:8) entfaltet. Dies wird auch in den folgenden Versen
des Gedichts deutlich: „Ihr, der Nacht, / das sternüberflogne, das
meerübergossne, / ihr das erschwiegne, / dem das Blut nicht gerann, als der
Giftzahn / die Silben durchstiess. / Ihr das erschwiegene Wort“. Das Wort
scheint gespannt zu sein zwischen Himmel und Abgrund, zwischen den Sternen und
vom Meer überflutet; diese Atmosphäre, die romantisch anmuten könnte, wird
sofort abrupt durch die Katastrophe unterbrochen: Die Silben werden
durchstoßen. Man taucht unmittelbar in Celans Poetik ein, in der Trauma und
Erinnerung die zentralen Elemente bilden. Es handelt sich nicht um eine direkte
und fließende Kommunikation. In diesem Kontext ist das Wort ‚erschwiegen‘
unauflöslich mit dem Schweigen verbunden: Hier, in der Nacht, vollzieht sich
die Überwindung des Gegensatzes „Ihr das erschwiegene Wort“. „Ihr“ bezieht sich
auf die Nacht; dort erfolgt die einzige Möglichkeit zu sprechen: durch das
Schweigen. In diesem Paradoxon entfaltet sich die gesamte Poetik Paul Celans:
Ein Wort, das aus dem Schweigen und aus der enormen Anstrengung der Sprache
entsteht.
Fazit
Im Mittelpunkt dieses Beitrags
steht das Konzept der Schwelle als liminaler Ort zwischen zwei Elementen. Zunächst
wurde ein kurzer etymologischer und semantischer Exkurs präsentiert, wobei die
Definitionen von ‚Schwelle‘ und ihre damit verbundenen Bedeutungen im
Mittelpunkt standen. Anschließend wurde dargelegt, dass dieses Konzept zentral
für die poetische Operation des Dichters Paul Celan ist. Nach der Tragödie der
Shoah musste die Sprache verändert werden, und dem Dichter gelang es nur noch,
im Schwellenraum zwischen Kommunikation und Verstummen wieder schreiben zu
können.
Bevor die von Celan gewählte Lösung
gezeigt wird, wurden drei verschiedene (Un)Mög-lichkeiten untersucht, Gedichte
zu verfassen: Erstens wurde das Verdikt von Theodor W. Adorno verworfen, weil
laut Celan das Schweigen keine Option war; zweitens wurde die unbewusste
Rückkehr zur Sprache vor dem Holocaust ebenfalls ausgeschlossen, da die Spuren
der Geschichte in der Dichtung erkennbar sein müssen; drittens wurde die
entleerte und sterile Sprache, die zur Zeit Celans herrschte, als poetischer
Ansatz ignoriert, auch weil die semantische Entleerung gerade vom Dritten Reich
durchgeführt worden war.
Welche Lösung schlägt Celan also
vor? Die ‚Ermordung der Sprache‘, die Rückwendung auf sich selbst, mit der
Gefahr, zu verstummen. Nur in dieser Schwellenzone kann man wieder Poesie
schreiben. Diese Vorgehensweise ist in seinen Texten sichtbar; ausgewählt
wurden Abend der Worte und Weggebeizt als konkrete Zeugnisse.
Schließlich zeigte sich, dass es eine Dimension gibt, die die Schwelle am
besten verkörpert: die Nacht. In Argumentum e silentio wurde demonstriert,
wie die Vereinigung gegensätzlicher Pole in der Nacht realisierbar ist:
Verbindung von Leben und Tod, von Kommunikation und Verstummen.
Abschließend lässt sich
feststellen, dass die Schwelle ein fragiler Ort ist, an dem man das Überschreiten
riskiert. Für Celans Dichtung ist es jedoch notwendig, dieses Risiko zu tragen: Seine radikale Umgestaltung
der Sprache ist anspruchsvoll und schmerzhaft, aber nur auf diesem Weg kann
nach der Katastrophe wieder Poesie entstehen. Darüber hinaus bietet die
Untersuchung der Schwelle lohnende Anknüpfungspunkte für vergleichende Studien
zur Liminalität bei anderen Autorinnen und Autoren, die gezwungen sind, eine
veränderte Sprache zu verwenden, um traumatische Erfahrungen wie die
Judenvernichtung auszu-drücken.
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¹ Sämtliche Verweise auf diesen Begriff finden sich in: „Schwelle“ in: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften,
https://www.dwds.de/wb/etymwb/Schwelle (Stand: 9.12.2025).
² Wie Klaus Manger betont, Celans poetischer Imperativ „machs Wort aus“ verlangt, das dichterische Wort neu auszumachen. Vgl. Manger, Klaus: „… mach’s Wort aus.“ Celans poetischer Imperativ. In: Speier, Hans-Michael (Hrsg.) (1995): Celan-Jahrbuch. C. Winter, Heidelberg, S. 7–24, hier S. 9.
³ Man bezieht sich auf: Klemperer, Victor (1996): LTI: Notizbuch eines Philologen. 15. Aufl., Reclam Verlag, Leipzig.
⁴ Dies ist die Absicht der Machthaber; Klemperer betont jedoch, dass gerade die Sprache dazu fähig ist, das ans Licht zu bringen, was man verborgen will: „Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor anderen, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag“. Ebd. S. 21.
⁵ Siehe dazu auch das editorische Vorwort zum Meridian (a.a.O.), S. XIII.
⁶ Dies ist ein Aspekt, der in Celans Lyrik nicht zu unterschätzen ist. Häufig nimmt er Bezug auf geologische Veränderungen des Bodens, die auf die Präsenz der Toten hinweisen, die, da sie nicht bestattet wurden, sich mit Erde und Gestein vermischt haben. Diese Vernachlässigung erträgt Celan nicht. Die Germanistin Uta Werner hebt in diesem Zusammenhang hervor: „Wie in Sedimenten und Versteinerungen die Natur ihre Geschichte semiotisch festhält, so versteht sich der Raum des Celan-Gedichts als eine geschichtete Textlandschaft. Er formt den Ort eines historischen Gedächtnisses“ (Werner, Uta (1998): Textgräber: Paul Celans geologische Lyrik. Fink, München, S. 7). Celan selbst erläutert in einem Brief an Ingeborg Bachmann die Funktion seines bekannten Gedichts Todesfuge, die als „eine Grabschrift und ein Grab“ für ihn ist. (Celan, Paul / Bachmann, Ingeborg (2008): Herzzeit. Der Briefwechsel. Frankfurt am Main, S. 126).