Schreibheft No. 96 (2021)
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Schreibheft
No. 96 (2021)
GRENZPHÄNOMENE
DES POETISCHEN (II):
Literarische Partisanen
Falls es
bislang noch keine Theorie des literarischen Partisanen gegeben hat – mit Hilfe
der aktuellen Schreibheft-Ausgabe könnte sie begründet werden. Denn Schreibheft-Herausgeber
Norbert Wehr hat in der aktuellen No. 96 fünf radikale ästhetische Dissidenten
versammelt, die sich einer Subsumtion unter die literarischen Ordnungshüter
ihrer Zeit konsequent verweigert haben. Auf den ersten Blick scheinen die hier
porträtierten Autoren literaturgeschichtlich und formästhetisch weit
auseinanderzuliegen. Was verbindet Christian Morgenstern, den Meister der
Sprachgroteske, mit dem amerikanischen Underground-Poeten und Übersetzer David
Rattray (1936-1993) oder dem russischen Prosavirtuosen Andrej Bitow (1937-2018),
der seine Erzähltexte als Stolperfallen anlegte? Und wie lässt sich von diesen
drei Solitären einer kalkulierten Abweichungsästhetik eine Brücke schlagen zu
dem Sprachekstatiker Thomas Kling, von dem im neuen Schreibheft ein
bislang unveröffentlichtes Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks publiziert wird?
Das Verbindende zwischen diesen Autoren lässt sich am besten mit dem Bekenntnis
David Rattrays beschreiben, das er im Dezember 1991, in seinem letzten
begeisternden Gespräch kurz vor seiner finalen Erkrankung formuliert hat: „Sie
waren Randleute, Leute, die am Rand der Verrücktheit oder des Todes oder mit
einer Art letzten Konfrontation mit einer Erkenntnis der absoluten Leere, der
Leere von allem, schrieben….Diese Injektion von Irrationalität und Verrücktheit
und Unordnung in das geordnete Leben, das regeneriert das Leben im
Allgemeinen.“
Zu diesen
literarischen „Randleuten“, Partisanen, Gefälligkeitsverweigerern und
Wohlklangverderbern gehört auch die Sprach-Performerin Mara Genschel. Mit der
von Rattray beschriebenen Injektion von Verrücktheit und Unordnung in einen
konformistisch dahin-plauschenden Literaturbetrieb hat sie in den vergangenen
Jahren einige Wirkung erzielt. Im Blick
auf den herannahenden 150. Geburtstag Christian Morgensterns hatte Genschel nun
den schönen Plan gefasst, dem Sprachartisten ein kleines „Festchen“
auszurichten und dabei die einschlägige Verkleinerung des „Galgenlieder“-Autors
auf den Status als Spaßmacher und Lustigkeits-Generator zu vermeiden. Im Schreibheft
ist nun die kleine Morgenstern-Festversammlung unter der Regie Genschels zu
besichtigen. Dabei geht es weniger darum, einige feingeistige Fußnoten zur
Morgenstern-Rezeption abzuliefern, sondern den Autor als Plattform für
eigensinnige Phantastereien zu nutzen – natürlich im Sinne Morgensterns. Unter
all diesen Etüden, Spontan-Memorierungen von Morgenstern-Gedichten und
„gekritzelten Hommagen“ lässt vor allem der norwegische Post-Dadaist, Komponist
und „Heldentenor“ Trond Reinholdtsen die ästhetischen Funken sprühen.
Reinholdtsen vermag schon rein topografisch eine Linie zu ziehen zu
Morgensterns berühmten „Galgenliedern“. Der Ruhm Morgensterns, so will es die
Fama, begann in einer Kneipe im brandenburgischen Werder. Auf einer Anhöhe in
Werder, dem sogenannten „Galgenberg“, war er 1895 mit einigen Zechbrüdern in
die gleichnamige Kneipe eingekehrt und schrieb und sang dort seine ersten
„Galgenlieder“. Reinholdtsen vermag nun schon rein topografisch eine Linie zu
ziehen zu den „Galgenliedern“. Denn er wohne, so vermag Reinholdtsen unter
Abweisung von Fake-News plausibel zu machen, in Oslo am „Galgeberg“. Trotz
Verlust des Konsonanten „n“ sei seine Nähe zu Morgenstern evident. Als
selbstinstallierter „Operndirektor“ hat er ein Opernhaus „tief im schwedischen
Wald“ gekauft und lässt uns nun in seinem Text daran teilhaben, wie sich Morgenstern
heute fruchtbar machen lässt. Zu Beispiel in kunstvoll gebrochenem Deutsch:
„Man kann jetzt zeichen direct ins Word in Computer. Heute ist experimetelles
Poesi teil vom Schreibmaschine, nie mehr Mystizismus, alles ausgeglattet zum
digitalen Nix.“ Gleichzeitig fallen ihm auch sehr konsensfähige Sätze zur Rezeptionstätigkeit
ein: „Ich kann nicht ALLES machen und fertig ausdenken für euch wie frozen
Pizza fresh from the oven.“
Die
schrägen Linien und Zack-Zack-Kurven dieser Art widerborstiger Literatur werden
auch im Schreibheft-Dossier zu David Rattray nachgezeichnet. Rattray
begann im Umfeld der Beat Generation zu schreiben, und seine Weggefährten um
1959/1960 waren zwei äußerst bizarre Autoren, die sich mit starker Affinität zu
Alkohol und Drogen als umherschweifende Literatur-Rebellen inszenierten: Johnny
Sherrill und Alden Van Buskirk. Um 1960, so erfährt man hier aus einem
Interview, ging Rattray zusammen mit Van Buskirk nach Mexiko, um von dort aus
Riesenmengen an Marihuana in die USA zu schmuggeln – eine von vielen
Unternehmungen jenseits der Legalität, mit denen sich Rattray als konsequenter
Verfechter einer Literatur am Rand profilierte. Der assoziativ pulsierende
Bericht Rattrays von seinem Besuch beim allseits verehrten Ezra Pound im St.
Elizabeths Hospital in Washington im Jahr 1957 ist ein weiteres Glanzstück
dieser Schreibheft-Ausgabe. Man bekommt einen körperlich äußerst fitten
und zugleich verfemten Dichter vor Augen geführt, der in seiner
Selbstdarstellung schwankt zwischen genialen Exkursen zur Troubadour-Dichtung
und antisemitischen Tiraden. Ans Ende des Schreibhefts ist diesmal ein
wichtiger Fund aus dem Nachlass Thomas Klings gerückt. In seinem Gespräch mit
Heinz-Norbert Jocks erläutert Kling seine tiefe Verwurzelung in den „Bildpools“
der bildenden Kunst. Die Welterklärung über Bilder oder über nonverbale
Buchwerke wie z.B. den Inkunabeln des Mittelalters war für diesen Dichter
wichtiger als die Anknüpfungen bei der Neo-Avantgarde der Wiener Gruppe:
„Genausowenig, wie mich eine Party lockt, wo nur Rechtsanwälte oder Zahnärzte
rumhängen, genauso unanregend finde ich zu viele Schriftsteller auf einem
Haufen. Die Sichtweisen bildender Künstler inspirieren mich mehr.“
Schreibheft
96 (2021), Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen, 156 Seiten, 15 Euro.