Schreibheft No. 93 (2019)
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, No. 93 (2019)
DIE MUTTERSPRACHE ALS TORTUR

„Wie viele
Menschen leben heute in einer Sprache, die nicht ihre eigene ist?“, haben die
französischen Meisterdenker Gilles Deleuze und Félix Guattari einmal gefragt.
In der Person des schizophrenen Autors Louis Wolfson hatten sie um 1968 einen
Mann gefunden, dem die Sprache als ordnungsstiftendes System zur Erfassung der
Welt vollkommen zerbrochen war. Die sogenannte „Muttersprache“ erlebte der
damals in New York lebende Wolfson als eine physische und psychische Tortur. Schon
früh versuchte er sich gegenüber dem Englischen abzuschotten, indem er sich in
Fremdsprachen vertiefte – hauptsächlich Französisch, Deutsch, Russisch und
Hebräisch – und sich tagsüber die Finger in die Ohren steckte oder Kopfhörer
überstülpte, um fremdsprachige Sendungen im Radio anzuhören. Seine Abscheu vor
der englischen Sprache stand dabei in direktem Zusammenhang mit der Abscheu vor
der eigenen Mutter. Er empfand die Mutter als „Monster an Vulgarität“, die in
ihrer Freizeit amerikanische Schlager in voller Lautstärke auf einer elektronischen
Orgel spielte und ihm damit das Leben zur Hölle machte. Denn die Mutter wusste,
dass ihr Sohn das Englische hasste und jede freie Minute zu weitreichenden Sprachstudien
nutzte. Nachdem er zehn Jahre in psychiatrischen Kliniken verbringen musste,
setzte Wolfson schließlich zu einem Befreiungsschlag an. Er begann ein Buch zu
schreiben, in dem er die eigene Muttersprache auszulöschen versuchte. Alle
englischen Wörter und Sätze zerlegte er und transformierte sie in seinem 1970
erschienenen Werk „Le Schizo et les Langues“ in phonetische Kombinationen aus
primär französischen, aber auch deutschen, russischen und hebräischen Silben
und Wörtern. So entstand eine Mischung aus klinischem Report und
sprachbesessener Dichtung, ein Hybrid aus autobiografischer Beichte und
experimenteller Poesie. Wolfson stellt sich dabei selbst als „schizophrenischen
Sprachenstudenten“ und „schwachsinnigen Erforscher von Idiomen“ vor. Im
November 1963 schickte er sein Manuskript an den Pariser Verleger Jean-Bertrand
Pontalis, der es bald an Gilles Deleuze weiterreichte, welcher dann im August
1968 in der Zeitschrift Critique erste Auszüge aus dem Text
veröffentlichte. Deleuze sah in Wolfson einen prototypischen Autor der
„Schizo-Kultur“, auch andere prominente Autoren wie Jean-Paul Sartre oder
Raymond Quéneau formulierten ihre Begeisterung. Deleuze schrieb dann auch das
Vorwort für „Le Schizo et les Langues“, das nach seiner Veröffentlichung vor
allem in Frankreich und in den USA Furore machte, während dieses radikale Werk
eines Schizophrenen in Deutschland lange unbeachtet blieb.
Es ist mal
wieder dem Schreibheft zu verdanken, dass dieses faszinierende Dokument
eines Sprachbesessenen nun auch an die deutsche Öffentlichkeit gelangt ist. Im
aktuellen Heft 93 haben die jungen Literaturwissenschaftler Maximilian Gilleßen
und Raphael Koenig zusammen mit der Bazon Brock-Assistentin Marina Sowall ein
faszinierendes Dossier über Louis Wolfson zusammengestellt, mit großartigen
Essays u.a. von Paul Auster, Sylvère Lothringer und Duccio Fabri. Maximilian
Gilleßen und Anton Stuckhardt erläutern z.B. en detail die
Permutations-prinzipien, die Wolfson bei seiner Transformation des Englischen
anwandte. Hier wird auch erläutert, warum von Wolfsons Text im Deutschen
bislang nur einige Fragmente und Zitate vorliegen. Denn seit zwei Jahren
arbeiten Raphael Koenig und Marina Sawall an einer Übersetzung von „Le Schizo
et les Langues“, aber der mittlerweile in Puerto Rico lebende Wolfson,
mittlerweile 88 Jahre alt, hat eine Veröffentlichung noch nicht genehmigt.
Eine
weitere Ausnahmegestalt der modernen Literatur, der jiddische Avantgardist
Mikhl Licht (1893-1953), wird in einem lehrreichen Dossier vorgestellt, für das
Norbert Lange verantwortlich zeichnet. In den prominenten Anthologien zur
modernen Poesie kommen jiddische Dichter nicht vor; weder in Enzensbergers
„Museum“, noch in Harald Hartungs „Luftfracht“ oder Joachim Sartorius´ „Niemals
eine Atempause“. Norbert Lange kann nun an der Werkgeschichte des
„meistvergessenen jiddischen Schriftstellers“ zeigen, dass dieser Poet ein
eminent wichtiger Brückenbauer zwischen der modernen anglo-amerikanischen
Dichtungstradition (mit Referenz-Autoren wie Walt Whitman, T.S. Eliot, Gertrude
Stein) und säkular hebräischen und jüdischen Impulsen war. 1893 in einem Dorf
in Wolhynien, der heutigen Ukraine geboren, begann Likht bereits als
Achtjähriger auf russisch Gedichte zu schreiben. 1913 emigrierte seine Familie
in die USA, wo der Dichter bis zu seinem Tod lebte. Nach seiner Ankunft in den
USA wechselte der junge Poet seine Literatursprache und schrieb unter dem
Pseudonym Max Licht Sonin einige Gedichte auf Englisch. 1917 entschied er sich
dann aber für das Jiddische und wurde ein Mitstreiter der avantgardistischen
Dichtervereinigung der Inzikhisten, die 1919 in ihrem inzikhistischen
Manifest („Innenperspektivistisches Manifest“) die Poetik eines
„jüdisch-amerikanischen Hochmodernismus“ einklagten, mit der Absicht, aus dem spezifisch
jüdischen Motivkreis herauszutreten. Mikhl Licht orientierte sich in erster
Linie an der Dichtung des von ihm bewunderten T.S. Eliot, von dem er die
Erlaubnis erbat (und auch erhielt), den wegweisenden Essay „Tradition and the
Individual Talent“ ins Jiddische zu übersetzen. Kundige Leser bemerkten zu
Lichts Poesie, es sehe so aus, als würde er „auf englisch denken und jiddisch
schreiben“. Im Schreibheft sind nun Auszüge aus seinem grandiosen, neun
Langgedichte umfassenden Zyklus „Prozession“ zu lesen, der hier u.a. von Sonja
vom Brocke, Rainer G. Schmidt und Hans Thill übersetzt wird. Ein Pionier der
Moderne wird hier wiederentdeckt – die Schreibheft-Expedition in bislang
unbekannte Regionen der Weltliteratur wird fortgesetzt.
Schreibheft
No. 93 (2019), Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 192 Seiten, 15
Euro.