Direkt zum Seiteninhalt

Schreibheft 95: Die Verfremdung der Welt

Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats

Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Schreibheft 95: Die Verfremdung der Welt

Eine Poetik der Sterblichkeit


Der Sündenfall sei nun eingetreten, die „Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt“, sei überschritten worden. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben bediente im April dieses Jahres das schrillste Register der Gesellschaftsdiagnostik, als er seine Überlegungen zum Umgang der politischen Klasse Italiens mit der Corona-Krise vortrug. Die ethischen und politischen Prinzipien der westlichen Welt seien einem „nicht näher bestimmten Risiko“ geopfert worden. Es ist die bislang schärfste Kritik an der Corona-Präventionspolitik der westlichen Gesellschaften, die eine bedeutende Stimme der Gegenwartsphilosophie formuliert hat. Im aktuellen Schreibheft, das in all seinen Dossiers eine aufregende Lektüre bietet, hat nun die Schriftstellerin Esther Kinsky ihre Erfahrungen mit der Corona-Krise aufgezeichnet – und zwar in starker Affinität zu Agambens Fundamentalkritik, zu der sie sich ausdrücklich bekennt. Von März bis Mai 2020 lebte Kinsky in einem Dorf im Friaul im äußersten Nordosten Italiens, von dort aus schickte sie bewegende Briefe an den Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr, in denen sie in der ihr eigenen Wahrnehmungsgenauigkeit ihre Erfahrungen mit der rigiden Lockdown-Politik der italienischen Regierung  festhält. Im Unterschied zur hochfahrenden Gestik Agambens bewahrt sich Kinsky in ihren „Friulanischen Briefen“ aber eine Beobachterposition, die auch die eigene Verunsicherung und Ungewissheit über die Lage mit einbezieht. Kinsky übt sich nicht in wohlfeiler Staatskritik, verwechselt den eigenen Verdruss nicht mit Gesellschaftsanalyse, sondern vermag anhand ihrer ganz konkreten Erfahrungen das Unbehagen an der Transformation unserer Kultur zu einer Gesellschaft des social distancing zu veranschaulichen. In der Zeit der Leere und der sozialen Isolation, so notiert die Beobachterin, scheint das intensive Licht des Friaul noch stärker zu leuchten. Bei aller Schärfe ihrer Kritik an der „Unterwanderung der Demokratie“ und an der „Kontrollwütigkeit der Autokraten“ leugnet Kinsky nicht die Gefährlichkeit des Virus, geißelt aber die „Panikmache“, mit der alles einer Politik der Gefahrenabwehr unterstellt wird. Nach den ersten „Lockerungen“ zieht sie Mitte Mai eine Zwischenbilanz: „Italien ist, ich muß es zugeben nach all meinem Verdruß über Autorität und Machtmißbrauch und Gehorsam, menschlich doch näher an dem, was ich als einzig mögliche Art, der Zukunft zu begegnen, sehe, nämlich einer Versöhnung mit dem Gedanken an Sterblichkeit, an Anfälligkeit, an Unvorsehbarkeit, einem Leben im Angesicht einer möglicherweise bedrohlichen Situation. Anders kann es doch gar nicht gehen als immer Leben mit diesem Risiko.“
  Ein zweites, ebenso frivol-provokatives wie lässig-selbstbewusstes Schreibheft-Dossier (komponiert von Jan Wilm) beschäftigt sich mit dem New Yorker Autor Joshua Cohen, der in seinem Roman „Witz“ die Topoi der Holocaust-Literatur mit boshaften Pointen aushebelt.
     Das bewegendste Dossier im neuen Schreibheft ist indes dem 2018 verstorbenen Schriftsteller Wilhelm Genazino gewidmet, der in seinen Romanen immer wieder verdruckste, zögerliche, in ihrer Entwicklung gehemmte und dem Scheitern zugetane Einzelgänger zu Protagonisten erhoben hat. Für das Schreibheft hat nun die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Anja Hirsch ausführliche Gespräche, die sie 2006 mit dem Autor führte, ausgewertet und zu einer Art Autobiographie in Umrissen zusammengestellt.  Man ist schon sehr angerührt von dem Fotomaterial, das Hirsch den hier versammelten Selbstäußerungen Genazinos beigefügt hat. Die Fotos zeigen den jungen Autor, der sich zeitlebens einer „Poetik der Schüchternheit“ verpflichtet fühlte, wie er als Volontär bei der „Rhein-Neckar-Zeitung“ in Anzug und Krawatte auftrumpft oder wie er sich als Mitstreiter der „Neuen Frankfurter Schule“ um Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid in einer Frankfurter Bierkneipe unter die linke Boheme der siebziger Jahre mischt. Es ist ja weitgehend in Vergessenheit geraten, dass der spätere Prosavirtuose Genazino als Lehrling bei einem Transportunternehmen Gedichte zu schreiben begann, die dann in den „Lyrischen Heften“ Arnfrid Astels veröffentlicht wurden, die dieser von 1959 bis 1971 herausgegeben hat. Bereits 1965 trat Genazino dann mit seinem Romanerstling „Laslinstraße“ auf die Bühne des Literaturbetriebs, fand damit aber keine Beachtung. Diesen Erstling hat Genazino später verworfen, auch in den hier veröffentlichten Gesprächen beschreibt er den experimentierfreudigen Roman, der um die Sprachlosigkeit der Eltern des Erzählers kreiste, als ein Werk von schwer erträglicher Redundanz. Nach diesem missglückten Debüt hat Genazino viele Jahre geschwiegen und sich als Ironiker in der Zeitschrift „Pardon“ betätigt. Dann folgte die Trilogie mit Angestellten-Romanen, die sogenannten „Abschaffel“-Romane, in denen Genazino als poetischer Soziologe der Angestelltenwelt bekannt wurde, bevor er dann mit dem 1989 publizierten Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ die literarische Wende zum Chronisten eines misslingenden Alltags vollzog. Die Zeit des großen Erfolgs begann dann 2004, als der Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ im „Literarischen Quartett“ hymnisch gefeiert wurde, im selben Jahr erhielt Genazino auch den Büchner-Preis. Seither haben uns seine heiteren Melancholiker und Meister des Ungeschicks ständig begleitet, seine dünnhäutigen Protagonisten, die in der Erwartung einer finalen Katastrophe dahinleben und von Schmerz und Überdruss in einem Zustand der Verharrung gelähmt bleiben. Parallel zu diesen großartigen Selbstauskünften Genazinos im „Schreibheft“ sollte man das wunderschöne, im Verlag Ulrich Keicher erschienene Bändchen „Fast eine Komödie“ lesen, in dem Ulrich Rüdenauer ebenfalls Gespräche mit Wilhelm Genazino gesammelt hat – ein weiteres fantastisches Porträt jenes Schriftstellers, der wie kein zweiter Gegenwartsautor die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ aufgezeichnet hat.


Schreibheft 95, Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen, 144 Seiten, 15 Euro


Zurück zum Seiteninhalt