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Schreibheft, No. 94

Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats

Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, Heft 94  

Dichtung, gerupft: István Kemény, ein Experte für Ernüchterung
Der ungarische Dichter István Kemény ist ein großer Künstler der Desillusionierung. Statt sich in die exklusive Schar der poetae vates einzureihen, der großen Schicksalsdeuter, arbeitet er beharrlich an der ästhetischen und philosophischen Ernüchterung. Statt auf die althergebrachte Selbsterhöhung des Dichters setzt er auf Selbstrelativierung. Seine Poetik der Selbstbegrenzung konnte man hierzulande bislang in drei auf deutsch vorliegenden Gedichtbänden studieren, zuletzt im subtil komponierten Auswahlband „Ich übergebe das Zeitalter“, der im Verlag Reinecke & Voß erschienen ist. In der konzisen Übersetzung von Monika Rinck und Orsolya Kalasz tritt uns hier ein Autor entgegen, der mit einer souveränen intellektuellen Heiterkeit die „nützlichen Ruinen“ unseres Zeitalters besichtigt. Nun finden wir in der aktuellen, wie immer überaus lesenswerten Ausgabe des Schreibhefts ein umfangreiches Dossier zu István Kemény, das die Übersetzerin Timea Tankó zusammengestellt hat und das unser Wissen über den Dichter erheblich erweitert. In einem Gespräch mit Attila Bartis offenbart Kemény hier einiges über seinen Weg vom erfolglosen Jura-Studenten zum bedeutendsten Gegenwartsdichter Ungarns, der schon früh eine „Dichteridentitätsphobie“ entwickelte. Sein erster poetischer Auftritt war dann nicht zufällig eine Parodie auf „moderne Lyrik“ – und eine gewisse Neigung zum Parodistischen und zur Entzauberung allzu stolzer Dichter-Hybris hat er sich bis heute bewahrt. In einer Selbstauskunft berichtet der 1961 in Budapest geborene Autor zudem von der Entstehung seines ersten gültigen Gedichts, ein Produktionsprozess, der sich über ein Jahr hinzog, vom August 1980 bis August 1981, und bezeichnenderweise mit einer Selbstkorrektur des lyrischen Subjekts eröffnet wird: „Du weißt, ich irre mich/ Ich weiß, ich irre mich / Ein Heilkraut suche ich / Gilgamesch ganz ähnlich…“ In dieser Erinnerung an seine erste poetische Manifestation arbeitet Kemény mit einer Technik der ironischen Profanierung der lyrischen Tradition und der religiösen Mythologien, wie auch in den Gedichten, die im Schreibheft (zumeist als deutsche Erstveröffentlichung) abgedruckt sind. Als ein prägnantes Exempel seiner skeptischen Geschichtsmetaphysik können hier die lässig gefügten Couplets gelten, die hier als „Rondeaus zu Melodien, die die Große Pest überlebt haben“, annonciert werden. Als lakonischer Refrain fungiert dabei die skeptische Formel „Geschichtsmühsal“: „Versailles, Venedig,/ Geschichtsmühsal./ Rückblick gefällig? / Versailles, Venedig, / Das Licht bricht ewig / Im Spiegelsaal. / Versailles, Venedig,/ Geschichtsmühsal.“ Wie gründlich Kemény mit allen geschichtsphilosophischen Utopien und politischen Verheißungen aufgeräumt hat, war auch schon im Titelgedicht seines Bandes „Ich übergebe das Zeitalter“ zu erfahren, in dem er die Epochen-Erfahrung lakonisch inventarisierte und dabei jedes Prinzip Hoffnung zerschlug: „Ich übergebe das Zeitalter. Es funktioniert./ Hier sind die Schlüssel./ Alles in Ordnung. / Hier sind die Schlüsselfiguren. Hier sind/ die menschlichen Wracks. Hier ist der Durchschnitt.“ Zu den Höhepunkten in diesem äußerst vergnüglichen Schreibheft-Dossier zählen die zwei Kemény-Essays, in denen der Dichter seinen skeptischen Eigensinn gegenüber den tradierten Topoi von Mythos und Poetik ausagiert. Als profunde Antwort auf eine Umfrage einer Zeitschrift nach dem Verhältnis des Dichters zur Bibel liefert er nebst einem ironischen Statement auch einen brillanten Zyklus über Kain, den ersten Brudermörder der Geschichte,  der sich den göttlichen Einflüsterungen verweigerte und schließlich zur bösen Tat schritt. Hinzu kommt seine ketzerische Selbsterkundung als Dichter („Dichtung, gerupft“), die in der Sentenz gipfelt: „Ich bin ein dummer Dichter, dessen Maßstab für Lyrik die Gänsehaut ist.“

Für ähnliche Ketzereien war in Deutschland der große Sprachekstatiker Thomas Kling zuständig, der vor nunmehr fünfzehn Jahren an Krebs gestorben ist. Nach der von Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr zusammengestellten Nachlass-Publikation „Das brennende Archiv“ (Suhrkamp, 2012) konnte man glauben, dass die Schätze des nach wie vor faszinierenden Spracharchäologen Kling gehoben sind. Das Schreibheft wartet nun mit einer Überraschung auf - mit 22 Stücken aus dem Briefwechsel zwischen Thomas Kling und Oskar Pastior. Der von Diego León-Villagrá edierte Briefwechsel setzt im Februar 1985 ein, kurz vor der Veröffentlichung von Klings offiziellem Debüt erprobung herzstärkender mittel. Kling erkannte im „Sprachperformer“ und „Konzeptkünstler“ Pastior einen wahlverwandten Kollegen, der dem jungen Dichter dann auch einige Türen öffnete. So notiert Kling begeistert am 23.8.1985: „achtung! Sie sind erkannt!: Ihnen hab ichs zu verdanken, daß ich die Tage ,Luchterhans´ Jahrbuch der Lörik`-Fahnen (drei Texte hat Buchwald aufgenomm!) korrekturlesen durfte. Selbstverst. scheiße ich mir vorfreude auf den Kopf!“ Kurz darauf ging man zum freundschaftlichen Du über.


Schreibheft, No. 94, Zeitschrift für Literatur, Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 164 Seiten, 15 Euro.


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