Saul Tschernichowski: Dein Glanz nahm mir die Worte
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Jan Kuhlbrodt
Saul Tschernichowski: Dein Glanz nahm mir die Worte. Drei
Bände. Hebräisch, deutsch. Übersetzt von Jörg Schulte. Berlin (Edition Rugerup)
2020. 920 Seiten. 99,90 Euro.
Tschernichowskis Bienen
Eine erste Annäherung an das Werk Saul Tschernichowskis
Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, ein Gesamtwerk zu
besprechen. Klar man könnte die souveräne Übersetzung von Jörg Schulte loben,
den Umgang mit der hexametrischen Form,
das Moment des Artistischen, das in diesem Fall die Basis, den Hintergrund des
Genusses bldet. Auch in den Sonetten kommt das zum Vorschein.
Ich spreche hier von den Werken des 1875 in der Ukraine
geborenen und 1943 in Jerusalem gestorbenen Dichters Saul Tschernichowski, der
in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auch in Berlin lebte. Sie
sind als fulminante dreibändige Ausgabe in der Edition Rugerup erschienen.
Tschernichowski schrieb seine Gedichte auf Hebräisch und gehörte
zu den Erneuerern hebräischer Literatur. Gerschom Scholem sah ihn in dieser
Bewegung eher etwas skeptisch, weil Tschernichowski Momente und Strukturen in
die Hebräische Dichtung einführte. Aber vielleicht ist gerade das die große
Leistung dieses Autors, wenn man seine Arbeit mit etwas Abstand betrachtet. Dem
werde ich gerne nachgehen, wenn ich selbst in der Lage bin, diesen Abstand
einzunehmen. Noch aber bin ich im Zustand des Wunderns und Staunens angesichts
dieser Dichtungen, die mich zunächst einmal mitnehmen in eine Art
untergegangenes Reich, in eine ländliche Ukraine und in ein Odessa, über das
der Sturm des zwanzigsten Jahrhunderts hinweggefegt ist.
Zunächst scheint es also erst einmal an der Zeit, Mythen zu
erschaffen, die einen vergangenen Zustand in so etwas wie lebendige Bilder
gießen. Wir kennen das unter anderem von der Kunst Marc Chagalls.

Dann ward das Hoftor geöffnet, und als jener Bauer hindurchschrittkamen die Kohlköpfe beide, (als Kohlkopfzwillinge), legtenmit ihren Decken zugleich den Anblick von Kohlköpfen von sich,hatten die Form von beleibten und zwergenhaft winzigen Juden,
Aber Tschernichowski beschränkt sich nicht auf Verklärung
der unmittelbaren Umgebung oder Beschreibung des jüdischen Lebens in der
Ukraine am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, sondern er entwickelt aus einer
natürlichen Beobachtung eine Art übergreifendes Geschichtsbild, er schließt in
seinem Epos „Das goldene Volk“ die jüdische Überlieferung mit der Beschreibung
des Lebens der staatenbildenden Honigbiene kurz. Und er beschreibt, wie diese
Biene sich aus den anderen Bienenarten heraushebt.
Siehst du den Bienenstock dort in dem Baumstumpf? „Klotzbeute“ wird ernach dem Urbild genannt, nach dem Urstock, in dem unser Vorfahreinst einen Bienenschwarm fand – in den holen Stämmen des Waldes.
Nun ist es nichts Neues, die Biene zum Gegenstand eines
dichterischen Großwerks zu machen. Aber wie Tschernichowski hier den Mythos
vergegenwärtigt und zugleich moderne Momente mythologisiert, ist schon
einzigartig und ein Lesefest. Darüber hinaus hat der Honig noch eine besondere
Stellung in der jüdischen Küche. Im Glossar der Jüdischen Allgemeinen findet
sich dazu Folgendes: „Obwohl Honig zweifelsohne von einem nicht koscheren Insekt
stammt, ist er eindeutig koscher. Unklar ist jedoch, warum das so ist. Hierzu
gibt es zwei verschiedene Meinungen. Nach der einen (Talmud Brachot 6b) ist
Honig erlaubt, da er kein direktes Produkt der Biene ist, sondern lediglich ein
von ihr bearbeiteter Blumennektar. Honig ist koscher, da er keine tatsächliche
Ausscheidung eines unkoscheren Lebewesens ist.
„Das goldene Volk“ bildet den Abschluss des zweiten Bandes
dieser Ausgabe, den ich zuerst las, weil er mit einer autobiografischen
Erzählung des Autors beginnt, die seine Kindheit und Jugend in der ländlichen
Ukraine und in Odessa beschreibt. Und was die Motivlage betrifft, zumindest in
den darauffolgenden Langgedichten, findet sich einiges auch darin wieder,
gewinnt an Form und wird in dieser der unmittelbaren Erzählung enthoben: Zum
Beispiel einige Ausführungen des nebenberuflich als Tierarzt oder besser als
Tierheiler tätigen Vaters. Hier findet sich bereits eine Art Engführung
mystisch-mythischer Momente mit moderner Naturwissenschaft. Beeindruckend.