Sasha Lavrenchuk: Drei Gedichte
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Sasha Lavrenchuk
Drei Gedichte
übersetzt von Karin Fellner
Odin
(germanischer Gott)
Als stünden selbst die Statuen in Reih und Glied
und zischten vorbei auf Elektorollern,
eine nach der andern,
eine nach der andern,
rasch, rasch,
rasch, rasch,
und bei jeder, die vorbeirauscht, knallt der Wind –
lechz-lechz!
Die Augen kommen den Nachrichten nicht hinterher,
die Gedanken – wie die Augen,
und das Gedächtnis hat sowieso alle Bezugspunkte verloren.
Jetzt ist Odin allein.
Seine Getreuen Hugin und Munin haben ihn verlassen.
Haben sich in stinknormale Raben verwandelt,
sich dem erstbesten Schwarm angeschlossen.
Da fliegen sie, Krähen, wie alle andern.
Jedenfalls versteht er sie nicht.
Jetzt ist Odin nicht mehr derselbe.
Der Herbst hat ihn schlussendlich ausgeknockt.
Er sagt, tja, scheiß drauf, jetzt bin ich kein Schirmherr
der Kriege.
Auch der Jagd erteil ich eine Absage.
Ich werde mir selbst nur die Lyrik lassen. Genug.
Schreibt es dem Alter zu
oder der Weisheit.
Es gibt keinen Gott des Krieges – es gibt keine Kriege.
Außerdem wurde mir eine Rente zuerkannt.
Die Runen deute ich neu, nur für mich.
Lasst mir zumindest das eine – gebt mir mein Gedächtnis
zurück –
meinen letzten Freund.
Abermals trittst du nah heran an die dunkelste Seite deiner
selbst,
du drückst deine Stirne hinein, als lägst du auf Mamas
Bauch,
du umarmst ihre Taille – diese Dunkelheit
und du weinst,
weil dir plötzlich klar wird,
dass sie sich sorgt.
Diese Dunkelheit in dir sorgt sich um dich,
diese Angst in dir sorgt sich.
Sie möchten, dass du einen Schritt tust – genau dorthin.
Und zumindest für einen Schritt – den Bereich des lichten
Raums weitest.
Und Mama – das große DU – nimmt dich an der Hand und dreht
dich um
und ihr tretet zusammen vor – und dort erscheint er.
Genau unter euren Füßen.
Der Grund.
Und eine weiße Ascheflocke wird auf dich fallen,
dann ein verkohlter Holzspan
und ein durchsichtiges Hagelkorn, groß wie ein Wachtelei,
gefolgt von normalen Regenschauern.
Du stehst da und, so weit das Auge reicht, gibt es Wiesen,
du stehst und streckst deine Arme nach Ost und West,
dein Scheitel reckt sich nach Norden und auf der anderen
Seite der Erde berührt er fast die Zehen, die
von Süden her kommen.
Du umarmst deinen Planeten wie ein Koala, der sich an den
Eukalyptusbaum klammert, als wäre das
Mutters Hals.
„Mögest du in Zeiten des Wandels leben, mögest du in Zeiten
des Wandels leben, mögest du …“
Jemand hat diesen Fluch nicht beendet und du wirst alles
durchleben
wie eine Zen-Vogelscheuche auf einem Feld, vom Wind zum
Leben erweckt.
Von dem Baum, auf dem du sitzt, wirst du geschüttelt, also
fällst du wie ein Apfel.
Dann wirst du zu einem Ast und das Schütteln kitzelt nur
noch.
Du fühlst, wie der Wind unter deinen Achseln durchpfeift
oder dich sanft streichelt.
Siehst du die weißen, pinken, gelben Blüten?
Alles blüht.
Es ist alles aus und vorbei.
Es wird alles noch sein.
Und eine weiße Kirschblüte wird auf dich fallen,
eine gelbe, biegsame, kleine – von der Berberitze
und eine pinke Magnolie wird, wie ein geöffnetes
Flamingo-Ei,
auf deinen Kopf fallen.
Es wird alles noch passieren.
Es wird sein.
Wird sein.