Sascha Kokot: was wir waren
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Stefan Hölscher
Sascha Kokot: was wir waren. 15 Gedichte. Hamburg (Carl-Walter Kottnik) 2021. 19 Seiten. 100 nummerierte Exemplare. Erhältlich via mail@saschakokot.de für 3,00 € (inkl. Porto).
Sehtest – Sinn und Sinnlichkeit
Als ich nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub in dem Poststapel im Flur einen kleinen braunen Umschlag mit Absender von Sascha Kokot fand, dachte ich: Das ist vielleicht ein Brief im Zusammenhang mit dem von mir für eine Rezension erbetenen neuen Band von Kokot „was wir waren“. Doch der kleine Umschlag enthielt bereits den ganzen Text. In der E-Mailkorrespondenz schrieb mir Sascha Kokot dazu:
„Ich hab mich für dieses Heft entschieden, weil ich einerseits die Form sehr schön finde, es ist nicht zu groß oder klein, sehr handlich, kann leicht in der Jacke mitgenommen und zwischendurch gelesen werden.Außerdem läuft es mit der kleinen Seitenanzahl und der fehlenden ISBN fernab des regulären Literaturzirkus, es ist wie eine kleine Indie-Platte oder Single-Auskopplung. Zuletzt sehe ich es auch nicht als reguläres Buch an, so wie RODUNG oder FERNER, sondern vielmehr als ein Lebenszeichen, einen Zwischenstand meines Schreibens, irgendwo zwischen dem letzten und dem kommenden Band, es ist also ein Teaser und ein "ja ich schreibe noch und immer weiter".
Auch mein erster Eindruck von dem Bändchen beim Anschauen und Durchblättern war: Ja, sehr hübsch und geradezu auffallend schlicht, nicht nur, weil das Heft im Postkartenformat mit seinen 15 recht kurzen Gedichten so dünn ist, sondern weil man fast nur Weiß in den Fingern hält. Zwischen den rein weißen Umschlagseiten finden sich auf leicht glänzendem weißen Papier wie hingehaucht feine Zeichen, die die Vertikale der Seiten wie Fußtapsen eines ziemlich kleinen Tieres im Schnee durchziehen, während sich in der Horizontalen eine wie ein Faden oder hauchdünner Riss erscheinende gekrümmte Linie über alle Seiten zieht. Hübsch, dachte ich – aber auch: Das wird nicht ganz leicht zu lesen sein.
Zwar gehöre ich mit etwa 10 Dioptrien zu den ziemlich Kurzsichtigen im Lande; doch hat mir mein Augenarzt gerade jüngst bescheinigt, dass ich dank meiner Brille auf ein fast 100%iges Sehvermögen komme. Das reicht allerdings – wie sich beim Leseversuch rasch zeigte – für das Entziffern der Buchstaben des inhaltlich eigentlich reizvollen Kokot-Heftchens in keiner Weise. Die Seiten des Heftchens schaffen es nämlich zugleich, beim Betrachter einen Blend- wie Verneblungseffekt zu erzeugen: Das glänzende weiße Papier reflektiert das darauf fallende Licht so stark, dass es einem grell in die Augen sticht und dabei die in „Kazimir Text Größe 8“ äußerst klein und fein aufgedruckten Buchstaben fast bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen lässt, sodass ähnlich wie bei der letzten Seite eines ophtalmologischen Sehschärfetests, bei der man kaum noch klar erkennt, umso mehr aber zu raten hat, hier eine Unschärfe entsteht, die sich zur schnörkellosen Klarheit von Kokots poetischem Stil in einem buchstäblich schrägen Kontrast bewegt.
Wie ich mittels meiner Leselupe, die erstmals einzusetzen mir das Heftchen nun Gelegenheit geboten hat, zuletzt und mit größerer Mühe entziffern konnte, geht die Gestaltung des Heftes zurück auf: Ajete Elezaj & Carl-Walter Kottnik. Und diesen beiden sei nun an dieser Stelle ganz explizit für die optische Inszenierung dieser Selbst-Grenzerfahrung gedankt. Und gesagt: ein Heft-Design, das so sehr auf Kosten der Funktion geht, dass der darin enthaltene Text fast nicht mehr zu lesen ist, wenn man nicht über Augen wie ein Luchs verfügt, sollte man entweder ganz schnell dahin zurücktun, wo es herkommt: in Designers Bastelstube, oder man sollte das Produkt für so dumme behinderte Kurzsichtige, wie ich einer bin, dick kennzeichnen mit der Warnung: Kein Zugang für Menschen mit Sehoptimalitätsunterschreitungen. Es sei denn, man möchte zeigen, dass man dem ganzen Gerede von Inklusion und Barrierefreiheit einfach mal mit einem guten Dutzend unleserlicher Seiten den Stinkefinger zeigen will.
Nun aber zum Inhalt, den ich mir trotz der krassen Zumutung der Optik mit Geduld und Lupe schließlich erschlossen habe und von dem sich gleich sagen lässt: Kokots Gedichte können auch, wenn man sie zu lesen imstande ist, bestehen. Die 15 Gedichte in „was wir waren“ lassen sich fast wie eine kleine Geschichte verstehen zwischen einem Ich und einem geliebten Du; eine Geschichte, die mit einer Fahrt in den Schwarzwald beginnt, die über gemeinsamen Alltag und Intimität hin zu einer Trennung führt und schließlich in Erinnerungen und Begegnungen mit Früherem mündet. Die Szenerie prägen immer wieder Jahreszeiten, Schlaf und Traum, das Haus mit „Waschmaschine“, „Treppenhaus“, „Dach“, „Dielen“ etc. und „das Gewicht von schlafenden Katzen“. Kokots prosanahe Gedichte kommen dabei in einer so anschaulich greifbaren und zugänglichen Sprache daher, dass sie manchmal wie nachrichtenartige Schilderungen wirken. Dies gilt besonders gleich für das erste Gedicht der Reihe:
sind gut angekommenwir waren kurz nach 1Uhrschon in Freiburgdie Straßen noch freikaum aus dem Stadttunnel rausbeginnt der Schneebis Titisee-Neustadt haben wirfast 2 Stunden gebrauchtweil die Laster die Straße nutztenohne Schneekettennach Menzenschwandüber einen kleinen Bergsteckten dann auch die PKW festwir mussten rückwärtsfahrenbis zur nächsten Wendemöglichkeitund einen großen Umweg um den Schluchsee
bis nach St Blasien in Kauf nehmenvon dort aus konnte manauf geschlossener Schneedeckeaber nicht steilbis nach Menzenschwand fahrenhier waren wir kurz nach 5schön ist es hier
Aus dem scheinbar Schlichten heraus führen die Texte aber immer wieder auch in eine schillernde Vielschichtigkeit:
und es gibt die Tageda sehe ich dichvor mir liegenunter meinen Händenin meinem Takt atmenwach und doch ganz woanderstief in dir hinter den Lidern kreisendund nur deine Haut spricht nochüber den Nacken die Schultern die Wirbelall deine hungrigen Tiereruft sie leise vor mir aufund nie weiß ich genauzähme ich sie oderspielen sie nur und bin ichnicht schon längst von ihnenverschlungen
Nimmt der Text seinen Ausgangspunkt mit einer scheinbar klassisch männlich-weiblichen Intimpose, bei der SIE buchstäblich vor und unter IHM („unter meinen Händen / in meinem Takt…“) liegt, so mündet diese intime Begegnung in einer Bewegung, bei der Zähmendes und Gezähmtes, Spieler und Spielzeug fließend die Rollen zu wechseln scheinen bis hin zur Identitätsauflösung, zum „Verschlungen“-Sein des anfänglichen Ich-Subjekts.
Nicht in allen Texten gelingt es Kokot, ein solches Changieren zwischen den scheinbar fest gefügten Ebenen zu erzeugen. An manchen Stellen bleiben die Bilder und Wendungen tatsächlich ein wenig schlicht:
…frage ich mich was mehr schmerztdie zurückgelegte Distanz zwischen unsoder dass etwas verloren gegangen ist
Insgesamt bilden die 15 Texte in „was wir waren“ allerdings ein stimmiges und lesenswertes Ganzes. Es sind Gedichte, die ganz und gar unprätentiös Sinn und Sinnlichkeit evozieren und die in der aktuellen Lyriklandschaft schon allein dadurch aus dem Rahmen fallen, dass es ihnen so wenig wichtig zu sein scheint, aus dem Rahmen fallen zu wollen: Poesie mit scheinbar einfachen Mitteln.