Direkt zum Seiteninhalt

Sarai Shavit: Vier Texte

Montags=Text
Foto: Ruth Efroni
Sarai Shavit
Vier Texte, aus: Schmerz von ferne
(Keʼev merchakim / Distant Strains 2021)
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer


Die Pistole lag da

Ich habe Vater nicht gekannt. Jahre
nach seinem Tod fand ich die Pistole
auf dem Dachboden meiner verstorbenen Tante.
Die Holzstufen führten
eine nach der anderen,
zu einer alten Kartonschachtel. Hier geht es nicht
um einen verborgenen Schatz. Die Pistole, kühl, mit Staub bedeckt,
harrte in der Stille. Keiner von uns hatte sie benutzt,
während der sieben Trauertage den Auslöser gedrückt. Und auch danach
lag die Pistole da.

Ich brachte sie zur Polizei zurück.
Ich weiß nicht ob Vater sie versteckt
oder auf der Straße sichtbar am Gürtel
getragen. Ob er damit geschossen hat.

Nachts strecke ich meine Hand aus.
Im Dunkeln wirkt sie stark.

Unter den hauchdünnen Bettbezügen der Trauer
spanne ich die Finger und messe nach.



Danach

Hühner krähten
im Hof von der blonden Gali
auf der Fensterbank ragten Miniaturflugzeuge auf.
Auch mein Vater arbeitete am Flughafen
und auf dem hauchdünnen Schmierpapier, das er aus dem Büro mitbrachte
zeichneten wir statt Himmel graue Linien für die Rollbahnen.  
Danach aßen wir weißen Käse und Oliven.
Wir öffneten den Kasten mit dem Schachspiel
wir wetteiferten miteinander in Zügen Findungen
wir bestimmten die Regeln neu
wir streiften im Hof umher bis der Rocksaum hochrutschte
und schabten die Pitangasträucher um uns her. Wir rollten
die blaue Couch
rauf und runter
färbten sie rot
zählten wer
schneller Purzelbäume schlägt.

Mein Vater starb zuerst.
Danach ihr Vater.
Danach meine Mutter.
Danach ihre Mutter.



Bund

Im Sommer 86 schnitt uns Avschaloms Vater ein Schlupfloch in den Zaun,
wir liefen zwischen den Höfen hin und her.
Über uns brachen die Pekannussbäume
ich trat auf Blätter und das Geräusch
das sie machten.
Wir stiegen auf der gelben Leiter bis aufs Dach des Schuppens,
ein Fuß nach dem anderen, wir schwankten nicht.
Ich hatte keine Angst vor der Höhe, auch nicht vor dem Blut.
Ich hatte Angst Avschalom würde mit anderen Kindern weglaufen.
Ich fragte ob er mich liebt, und Avschalom sagte,
komm wir ritzen uns wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn.
Die Klinge des Taschenmessers blitzte in seinen Händen. Er schnitt sich in den Finger.
Biss sich auf die Lippen. Blut, sämiger, dunkler
als ich gedachte hatte, kroch
in dünnen Pfädchen bis zum Ellbogen.
Bäume rauschten. In den Augen kam Wind auf.
Ich wartete dass wir reingingen, seine Mutter uns einen Apfel schnitte und sein Vater
aus dem Auto stiege, die Aktentasche durch die Luft schwänge
und Avschalom und ich
für immer Brüder wären.

Jetzt du, sagte Avschlaom. Ich streckte die Hand aus. Die Messerspitze traf. Ich kreischte.
Er zog mich mit. Verletzte Hand griff nach verletzter Hand. Seine Finger rieben an meinen.

Oben segelten salzige Dächer eine matte himmelblaue Farbe ein Feldteppich Vögel Stromlei-tungen Bäume Wolken

wir stiegen die Leiter hinunter und rannten ohne innezuhalten
Avschalom nach Hause und ich
all dem Tod zu der mich erwartete.



Erbfolge

Schaff dir keinen Geliebten an
iss keinen Joghurt der nicht mehr haltbar ist.
Weine nicht die ganze Nacht durch. Hör immer
genau um Mitternacht auf. Knalle keine Türen.
Knapse nicht

mit Blumen. Lerne fleißig, gut zu wirtschaften. Vergiss
deine Kindheit. Verzeih der Lehrerin die dich Schielauge nannte, der Nachbarin
die ihren Mann den Siphon von der Spüle auswechseln schickte als du im Nachthemd, allein
zu Hause warst. Dem Regen der dich auf dem Bürgersteig erwischte, lass ein kleines Licht an im Bad.

Sieh zu wie dein eigener Körper im Bett schrumpft. Gib auf dich acht. Werd nicht
krank. Versuch nicht mit diesem Klotz in der Brust rumzulaufen du musst
diese Trauer nicht tragen. Ein Augenblick
und du kannst aufstehen –

wenn du die einzige Frau im Raum bist
zieh einen weißen Pulli an
nimm Platz. Warte nicht
dass man deinen Namen nennt. Mach den Mund auf.


Sarai Shavit ist Dichterin, Schriftstellerin und Redakteurin für Verlage und Fernsehen. Von ihr erschienen bisher die zwei Romane Bruria Hafakot (Bruria Productions, Kinneret Zmora-Bitan Dvir, 2009) und Hakol saris (India Express, Achusat Bajit, 2012) sowie die Lyrikbände Uma jesch od (What Else Is There, Achusat Bajit, 2014) und Keʼev Merchakim (Distant Strains, Mosad Bialik, 2021). Ihr Werk wurde mit dem Preis Schira al haderech (Lyrik liegt auf dem Weg) der Stadtverwaltung Tel Aviv, dem Lyrikstipendium des Mifal Hapajis und dem Literaturstipendium des Goldberg-Fonds ausgezeichnet. Sie ist Absolventin des Studiengangs für Creative Writing und Film an der Universität Tel Aviv. In der Vergangenheit hat sie die Bücher-Rubrik von Ynet, das Online-Literaturmagazin Sifrutkale und das Ressort für übersetzte Prosa im Matar Verlag herausgegeben. Shavit kuratiert regionale und internationale Literaturfestivals und moderiert und konzipiert das literarische Fernsehprogramm Schovrim Schura (Versumbrüche).
Zurück zum Seiteninhalt