SAID: september in varna
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Timo Brandt
SAID: september in varna: Liebesgeschichte in Gedichten. Tübingen (konkursbuch)
2019. 120 S. 12,00 Euro.
Aus der vernarbten
Wunde des Mundes geflossene Stimme
„deine hautein meer mit geadertem gedächtnismeine händezwei parallele flüssedie in dein fleisch mündendie nachtan keinen ort gebundennährt sich von uns“
Auf dem Klappentext wird die Geschichte, die die etwa 85
kurzen Gedichten dieses Bandes begleiten, folgendermaßen geschildert: „ein mann
trifft sich mit einer frau, die er kaum kennt, in varna am schwarzen meer im
september. beide leben in deutschland im exil. sie sprechen dieselbe sprache.
zum ersten mal seit jahren hört er liebesgeflüster auf persisch. sie stammen
beide aus teheran und haben die stadt seit langem nicht besucht – aber sie tobt
in ihren erinnerungen“.
„mit unserem ahnungslosen fleischstehen wir vor dem tagund buchstabieren rückwärts die nachtdie stundeangefressen von gezeiten und küssenfällt uns zu den füßen“
Vom Toben der Erinnerungen wird nur sehr indirekt erzählt in
den Gedichten, die sich um ein sehr kleines Inventar an Begriffen gruppieren: Mund
und Augen, Küsse und das Meer, Worte und Sprache, und auch die Flucht. Wie ein
eigenwilliger Code sind diese Begriffe Dreh- und Angelpunkt der meisten
Gedichte, ein Mantra und ein Bekenntnis, Waffen im Ringen um die Darstellung
der Nähe und Vertrautheit, in die sich der Schmerz von etwas Verlorenem mischt.
„zwischen den obstbäumender steinder von dir weißein tier murmeltdas wort schweigt und hütetdas geheimnis der liebenden“
Gerade zu Anfang sind die meisten Gedichte, trotz mancher
dunkleren Töne, noch fast idyllisch, und man könnte meinen, einfach einer
schwelgerischen Liebesgeschichte beizuwohnen, den Triumphgesängen eines Eros, der
ein weiteres Mal Thanatos überwunden und bezwungen glaubt. Der Leib der
Geliebten wird viele Male beschrieben und mit Kräften, einer eigenen Magie
bedacht:
„unter deinen blickenlegt der himmel den unglauben abund bekennt sich zur erde“
Beschreibungen, in denen Sexualität und Emotionalität gleichermaßen
zum Ausdruck kommen sollen, ziehen sich durch die Gedichte, oft konzentriert (neben
Augen und Mund) im Bild der Haut:
„auf der suche nach einem wortdas dich aufdeckt und meine hände nicht verrätplündert mein mund deine haut“
Von Ort und Hintergrund der Liebesgeschichte erfahren wir
allerdings wenig aus den Gedichten, und ohne den Klappentext würden trotz aller
Andeutungen die Umstände im Verborgenen bleiben. Mit der Zeit mischt sich in
die Texte eine haltlose Note, eine Zerrissenheit, die über einfachen
Liebesschmerz hinausgeht. Das Liebesverhältnis wird zum Austragungsort
weitergehender Sehnsüchte.
„hernach in deinem munderzähle ich dir alleserregt läuft die nacht hinausklopft an die türenund berichtet von einer neuen sprache“
Was zunächst wie ein einziger Kranz aus aufeinander
referierenden Liebesgedichten wirkt, entwickelt sich zum Ende hin (und
rückwirkend findet man Indizien im ganzen Band) zum Entlangfahren an einer
alten Narbe, die plötzlich, unter der Berührung des Anderen, wieder zu pochen,
zu jucken, zu schmerzen und zu glühen begonnen hat. Die neue Wärme an der Wunde
ist tröstlich und beängstigend zugleich. Das Liebesverhältnis wird zur Metapher
für eine fragile Hoffnung, eine schmale Utopie der Heilung.
„mein wortentkleidet durch deine stimmeversöhnt sich mit seiner herkunftmit jedem kusswerden die dinge fremder um unsbis wirin unserem flüsterhausden staat abschaffen und seine grenzen“