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Safiye Can: Poesie und Pandemie

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Timo Brandt

Safiye Can: Poesie und Pandemie. Gedichte. Göttingen (Wallstein Verlag) 2021. 96 Seiten. 18,00 Euro.

Wohin mit (s)ich im großen Ganzen


Es ist schön, dass es Dichter*innen wie Safiye Can gibt. Keine Angst vor Emphase, keine Angst vor Engagement und vor allem keine Angst vor einer Direktheit, die von vielen kritischen Geistern wohl eher das Prädikat „simpel“ verpasst bekommen würde. Besonders ihre Gedichtbände "Rose und Nachtigall" und "Kinder der verlorenen Gesellschaft" schätze ich sehr.

Mit ihrem neuesten und vierten Gedichtband habe ich mich allerdings sehr schwergetan. Das liegt zum einen an dem Langgedicht "Poesie und Pandemie", das die ganze zweite Hälfte des Bandes einnimmt. Aber auch schon bei zwei-drei Gedichten davor habe ich mich gefragt: Was macht dieser Text mit mir, abgesehen davon, dass er mich auf etwas einschwört?

Vielleicht lässt sich das gut veranschaulichen an dem Gedicht "Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung":

Frauen
kauft von Frauen
lest von Frauen
konsumiert von Frauen!
Frauen
lernt voneinander
wachst miteinander
steht zueinander!
Frauen
schließt euch zusammen
bildet eine Faust
werdet laut!
Frauen
erkennt eure Kraft
erkennt eure Macht.
Die Welt muss lila werden

Die Welt. wird. lila. werden!

Gleich vorweg: Es versteht sich von selbst, dass ich nichts gegen die hier vorgebrachten Inhalte habe, und es stört mich auch nicht, dass ich nicht angesprochen bin.

Aber auf mich wirkt das Gedicht wie ein Bannerspruch. Auf einer Demo beispielsweise. Da könnte ich mir diesen Text sehr gut vorstellen, wie er die Menge auf ein gemeinsames Ziel einschwört, die Forderungen und Ideen der Gemeinschaft bekräftigt.

Nun will ich dem Text seinen Status als Lyrik nicht per se aberkennen, das wäre einerseits vermessen und andererseits auch ein bisschen Steineschmeißen im Glashaus, gibt es doch auch Gedichte von mir, die einen sehr einfachen, direkten Ton anschlagen (für den ich außerdem Can ja oben noch gelobt habe).

Trotzdem habe ich, wie bereits gesagt, das Gefühl, dass mich das Gedicht auf etwas einschwört. Für Lyrik sitzt der Text auch zu eng, geradezu abgedichtet nach außen kommt er mir vor, wie einst Brechts Loblied auf den Kommunismus.

Braucht ein Gedicht nicht eine gewisse Offenheit? Natürlich sollte Lyrik ruhig mit Behauptungen um sich werfen, Dinge festlegen und geltend machen, meinetwegen auch propagieren und fordern. Aber wenn es da nichts mehr gibt in dem Gedicht, das beweglich ist, nichts Ambivalentes, keine Zwischenräume mehr - fehlt dann nicht etwas? Nämlich der Teil des Gedichts, den man nicht abnicken kann, sondern der sich vage und gleichsam wichtig anfühlt?

"Wenn in Hanau eine türkische Mutter weint
um den Tod ihres Sohnes
weint eine deutsche Mutter mit
und sie sind sich nie begegnet.
Eine Mutter ist eine Mutter.
Wir sind eins
wir gehören zusammen.

Eine Frau ist verliebt in eine Frau
ein Mann verliebt in einen Mann.
Ja, und?
Liebe ist Liebe.
Wir sind eins
wir gehören zusammen."                            

Auch bei diesem Anfang des Gedichts "Wir gehören zusammen" habe ich gegen den Inhalt nichts einzuwenden. Aber wiederum: was passiert in diesem Gedicht? Und, noch etwas dreister gefragt: sind das Wahrheiten der Kunst, die es offeriert?

Noch dreister geantwortet: streng genommen nicht. Es sind die Antworten der Vernunft und des Rechts. Natürlich ist jeder Tod ein Tod, es gibt keine Abstufungen und die Nationalität ändert nichts an der biologischen (oder sonstwie gearteten) Mutterschaft. Und klar, Liebe sollte vor dem Gesetz gleich sein, und vernünftigerweise sollte man, wenn man selbst lieben will, auch anderen ihre Liebe zugestehen, ganz gleich wie sie sich äußert (solange sie nicht missbräuchlich ist, versteht sich).

Aber auf der Ebene der Kunst sind die Antworten etwas zu einfach. Denn da geht es nicht um Vernunft und Recht, da geht es um individuelle Erfahrungen, Gefühle, Gedanken, Geschichten. Kurzum: hier ist Liebe nicht gleich Liebe, sondern jede Liebe ist anders; auch wenn manche Elemente immer und immer wieder vorkommen, ist es die individuelle Variation des Stichworts "Liebe", von der ein Kunstobjekt berichtet (und in dem sich die größere Idee des Begriffs wiederum spiegelt).

Und natürlich ist eine Mutter nicht gleich eine Mutter, sondern die Geschichten, warum sie ihre Söhne verlieren, die könnten durchaus verschieden sein, mit ganz anderen Problemen zu tun haben. Kurzum: ich habe hier nicht das Gefühl, Lyrik zu lesen, sondern eine Art Bauplan für eine Utopie zu konsumieren (eine, an der ich durchaus gern beteiligt wäre).

Bevor wir zu dem Langgedicht "Poesie und Pandemie" kommen, will ich natürlich nicht unter den Tisch fallen lassen, dass es in den Kapiteln davor auch einige schöne Liebesgedichte gibt, sowie drei eindrückliche Collagengedichte.

Auch ist da noch das Gedicht "Wenn du deine Frau bist", das, trotz eines ähnlichen Ansatzes, sehr viel besser funktioniert als die oben angesprochen Texte, weil es in der ganzen Breite seiner Aufzählung die Problematik des "Frauseins" in den Gesellschaften nicht nur auflistet, sondern wuchtig verdeutlicht; es liest sich wie ein Destillat von Büchern wie "Unsichtbare Frauen” von Caroline Criado-Perez oder dem Essaywerk von Rebecca Solnit.

"und schon bist du Hauptdarsteller*in einer Pandemie.

Die Lektion dieses Jahres lautet:
dass sich Billigproduktion und Konsumwahn
dass sich Unrecht, die der Kinderarbeit
und Billigarbeitender
früher oder später unabwendbar rächt.
Nicht zuletzt an unserer eigenen Haut.
Und dass jedes Land für den Notfall
auf sich selbst geworfen ist
auf jede Ausnahmesituation
vorbereitet sein muss."                        

Nun also das abschließende Corona-Gedicht. Es hat zwei Teile und 16 Kapitel und ebenfalls einen Aufzählungscharakter, arbeitet allerdings durchaus gekonnt mit Wiederholungen und Referenzen. Trotzdem tat sich vor mir wieder dieselbe, schwer zu überbrückende Frage auf: was macht das mit mir?

Und wieder ist die Antwort: wenig von dem, was ich gewohnt bin, wenn ich mich mit Kunst auseinandersetze. Ich werde erinnert an meine eigene Pandemie-Erfahrung und ja: Mir wird bewusst, dass diese Pandemie-Erfahrungen eine extrem verbindende, vielleicht sogar einmalig einen Großteil der Menschheit verbindende Sache waren/sind. Ich werde durch das Gedicht erinnert, dass alles zusammenhängt. Insofern funktioniert der Text in mancher Hinsicht durchaus gut.

Aber ich werde auch, wiederum, auf seine Behauptungen, seine Agenda eingeschworen, alles wird auf dieses Einschwören aus- und festgelegt. Wiederum gibt es da Behauptungen, die ihre Berechtigung in gewissen Zusammenhängen haben, viele wünschenswerte Annahmen und Forderungen, aber in einem Gedicht muten sie, bei aller Sympathie, doch schwierig an, ungelenk und eng.

Zwar erlaubt Can durchaus Widersprüchliches, doch letztlich wirkt ihr Text wie eine großangelegte Belehrung – und das in Bezug auf Erfahrungen, die wir vielleicht alle gemacht haben, aber die wir doch sehr individuell gemacht haben.

Was mich zu der Frage bringt: warum überhaupt das Ganze so groß aufziehen? Um anderen eine Stimme zu leihen? Um mehr Leute anzusprechen? Zumindest bei mir bewirkt dieses große Zusammenfassen eher das Gegenteil: Ich habe nicht das Gefühl, dass ich darin eine Rolle spiele. Ich werde nicht involviert, höchstens als passives Element.

Natürlich gibt es ein paar Momente, in denen ich mich doch wiederfinde. Aber ich glaube es wären viele mehr, wenn Can, statt vom Wir und der Welt zu sprechen, einfach von sich ausgegangen wäre, wie in den Corona-Liebesgedichten aus einem vorangegangenen Kapitel – das Große und Ganze würde sich darin eh spiegeln, in uns allen, die wir die Texte lesen und Ähnliches erlebt haben. So spiegelt sich nur das Einzelne vereinzelt in dem großen Ganzen, das man aus den Nachrichten kennt. Und man liest ja Gedichte nicht, um Nachrichten zu lesen.

Letztlich geht es, zumindest für mich, bei Lyrik ja auch darum, sich selbst im großen Ganzen wiederzufinden. Das können Dichter*innen ja: verdichten (ja, ich weiß, dass der Begriff Dichter*in nicht daher kommt, sondern von dicere, lat. für reden). Will heißen: Die Welt zu mir bringen, sie mich mit wenigen Zeilen spüren lassen. Nicht meine individuelle Erfahrung im Weltlichen auflösen, sondern ihr  im Gegenteil ein besonderes Reich einräumen. Ähnliches habe ich auch schon bei Can erlebt, in diesem Band leider allzu selten.


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