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Róža Domašcyna: stimmen aus der unterbühne

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Juliane Rehnolt

Róža Domašcyna: stimmen aus der unterbühne. Gedichte. Leipzig (poetenladen Verlag) 2020. 120 Seiten. 18,80 Euro.


Die preisgekrönte Dichterin, Herausgeberin und Übersetzerin Róža Domašcyna hat einen neuen Band mit über 70 Gedichten und kleinerer Prosa veröffentlicht. „stimmen aus der unterbühne“ überzeugt mit feiner Sprache sowie unverbrauchten Worten und Bildern.
    Programmatisch bündelt „Kerne in der schachtel“ die permanente präzise und harte Arbeit an und mit Sprache: „jedes wort hab ich bis auf den kern abgenagt / die kerne anschließend ausgespuckt“. Die „wortkerne“ sammelt das lyrische Ich in einer Schachtel, vielleicht einem Schatzkästchen. Dort verwandeln sie sich beim Gebrauch in „kernworte“ und können zum Klingen gebracht werden. Der Dichtungsprozess erweist sich keineswegs als unproblematisch. Berührend schildert das Ich ein ignorantes, feindseliges und spottendes Umfeld. Die Dichterkraft aber setzt sich durch und am Ende steht ein Kunstwerk, das Sprache bewahrt und produktiv macht. Zugleich schlägt sie mit diesem Gedicht eine Brücke zum gleichnamigen, hier leicht modifizierten Text aus dem sorbischsprachigen Band „W času zeza časa“ (Bautzen: Domowina-Verlag 2019).
    Poesie erweist sich für Róža Domašcyna erneut als Prozess zwischen den Sprachen, besonders der sorbischen und deutschen. „zwischensprachen“ lautet denn auch einer der Zwischentitel im Band. Sie macht Interferenzen fruchtbar, spricht „mit zwei / zungen nie doppelzüngig“ („Wie sie sich halten“). Ganz verschiedene Assoziationen eröffnen sich bei der Gegenüberstellung von Sünde und hrěch in „Hab die synonyme gewechselt“: „das wort sünde weiblich besetzt flötet“, hingegen „so zu sagen hrjech kommt männlich“. Die Aussprache wird ins Sinnliche hin ausbuchstabiert. Vom zweisilbigen Wort Sünde heißt es „die erste silbe mit gespitzten lippen / wie zum kuss sich nähernd nachschmeckend / genüsslich auskostend sogar süßlich anzüglich / und dann der schluss im munde verborgen“. Anders evoziert hrěch „nachdrücklich die silbe welche man sich / ins gesicht spuckt mit hartem zischlaut / letztlich einen schnaufer lassend wie / am anfang von kampfhandlungen einsilbig / befehl ausdruck erwünschter verheißung“. Diese wechselnden Konnotationen ergeben sich unmittelbar aus den Wörtern, denn sie selbst ermöglichen eine je andere Bildsprache.

Ausgeweitet in die historische und räumliche Dimension als „Wanderung zwischen den zeiten“ handelt es sich bei diesem Ansatz nicht nur um Parallel-, sondern ebenso um Austausch-prozesse, z. B. sorbischer durch deutsche Ortsnamen, was ebenso für neue Bilder sorgt, denn „am flecken der flusskrebse / wartet nun ein könig“ (Rakecy wird zu Königswartha). Das lyrische Ich unternimmt am eigenen Körper den Versuch einer Umkehr der Einsprachigkeit, indem es seine „zehen / nur noch daumen also palcy“ nennt. Das Denken aber bleibt bei „zehen“ und das Ich formuliert nun diese Überlagerungs-, Kollisions- und Austauschoperationen der Sprachen als spannungsreiches und lebendiges Verfahren: „auf parallelen sichtachsen tausche ich hin wie her“. Domašcyna markiert Mehrsprachigkeit als eine fundamentale Öffnung von Sprache und zugleich als Freiheit. So bleibt es in „Das wort sboscho“ ganz dem Gegenüber überlassen, ob es sich die obersorbische, niedersorbische, tschechische oder polnische Bedeutung des Wortes – sie reicht von Glück bis Ware – aneignet.

Aus der genauen Beobachtung von Sprache entsteht zudem Sprachkritik. „Aufs neue“ richtet sich dezidiert gegen gebrauchte, formelhafte Sprache etwa wohlfeiler Neujahrsansprachen. Domašcyna dehnt das in „Du sagst: dann besser sinnfrei noch“ zur Gesellschaftskritik aus, wenn die Flussufervilla oder das Versprechen auf Gewinn doch nur zu Schulden führen. Die wiederum sind eine Schuld auch gegenüber der Natur und der Erde, die das Beständigere und potenzieller Maßstab menschlichen Handelns sein können, dennoch zu wenig geachtet werden.
    Ebenso thematisiert sie technisch-menschliche Eingriffe in die Natur („Tropfen und kreise“). Nach dem Abzug des Menschen aber gehen Natur und technische Hinterlassenschaften im Langgedicht „Im vorstau, abgelassen“ eine neue Symbiose ein. Unter Wasser werden die Maschinen einer verlassenen LPG sukzessive von Seegras und Muscheln besetzt. Vor allem der Kohleabbau hinterlässt empfindliche Lücken. Bezeichnenderweise verliert in „Als ob II.“ eine alte Fotografie jeglichen Orientierungspunkt, denn das Dorf, in dem das Bild einst aufgenommen wurde, ist verschwunden. Der Ortsname Gižkojce ist nicht mehr lokalisierbar, wird also ebenfalls zum Verlust – und so schließt sich über die fehlenden Worte der Kreis zur Sprache. Das lyrische Ich nun bewahrt die Erinnerung mit verschiedenen Sinnen und in verschiedenen Medien: Es sorgt sich um die Fotografie, schreibt den verlorenen Namen auf und lauscht bewusst den versunkenen „stimmen aus der unterbühne“ nach. Schließlich sind sie es, die dem Gedichtband den Titel geben.
    Eine ganz eigene erzählerische Kraft entfalten die Porträtgedichte. Sie entwerfen Bilder von weiblichen Außenseiterfiguren, die traumatisiert von Krieg und Verbrechen sind. Domašcyna verleiht den Figuren eine Identität und verhilft ihnen damit aus der Anonymität. Ihre fundamentalen biografischen Beschädigungen werden persönlich und greifbar gemacht. Eine von ihnen ist „Hannelore“, die noch immer weinend außer sich gerät, wenn sie sich an die Kriegserfahrung der Bombardierung erinnert. Dem Dorf aber, in dem sie nun – in den 50er Jahren – lebt, bleibt sie fremd und verdächtig. Die tiefe Kluft ist dabei nicht nur als biografische, sondern auch sprachliche gekennzeichnet. Formal erweist sich „Hannelore“ als ebenso hochspannend, da das Gedicht eine Geschichte erzählt, die durch die deutliche Herausarbeitung der Rede beinah als Drama gestaltet ist.
    Róža Domašcyna lotet also permanent das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen aus und begibt sich dabei fortwährend ins Zwischenmenschliche. Folgerichtig begegnen sich Menschen immer wieder am Transitraum Bahnhof, in der Bahnhofskneipe oder am Bahndamm. „Am tisch“ führt neben dem Bahnhof eben den Tisch als weiteren zentralen Begegnungsort ein. Gastfreundschaft und warme Aufnahme sind dem lyrischen Ich mehrfach im Band selbstverständlich – Spekulationen über seine Motive dafür erklärt es in „Delanska kaffeetafel“ für überflüssig und müßig. Gleichzeitig ist am Tisch in „Auf den stühlen schnee“ der Ort, an dem die Kommunikation zweier Menschen endet. Lyrisches Ich und Du treffen sich, können sich zunächst aber nicht setzen, da Tisch und Stühle unter dem Schnee begraben sind. Es stellt sich dann heraus, dass nicht nur die Temperaturen, sondern auch die Emotionen eisige Grade erreicht haben. In einem letzten Versuch baut das Ich „uns eine Heimstatt“ aus Schnee. Die Kälte lässt sich jedoch nicht mehr in Wärme verwandeln, es übergibt zuletzt die fragile Behausung aus Schnee den Flammen der Außenheizstrahler.
    Die Motive des Wanderns, Fortschreitens oder Fahrens weisen noch auf einen anderen wichtigen Themenkreis des Bandes: das Altern. Besonders beeindruckend gelingt es Domašcyna in „Eine kleine sonne“, diesen Prozess poetisch zu fassen. Es beginnt mit einer Begonie am Ende des Sommers, die „hingekauert als halbnackte bettlerin / gierig nach den letzten sonnenstrahlen / des sommers“ liegt. Das lyrische Ich kümmert sich nun um die müde Blüte und versorgt sie mit Wasser. Schließlich spürt es beim Berühren der Blüte „haut / die sich so anfühlt wie meine / an den oberschenkeln als ich jung war“. Über die Natur nimmt der Mensch das eigene Altern wahr. Vielleicht deutlicher lautet der Titel der sorbischsprachigen Autorfassung „Dwójny zjaw“ (sinngemäß: „Doppelte Erscheinung“, aus dem Band „W času zeza časa“).
     Angestoßen vom Prozess des Alterns erinnern sich die Figuren und erkennen zuweilen im einst Erlebten „Das wesentliche“. In „Die sichere stelle“ nimmt die Erinnerung die Gestalt des Vorratskellers der Großmutter an. Dieser mittlerweile verschüttete Raum wird beim Erinnern mit allen Sinnen ausgegraben und erfahren. Dabei zeigt sich, dass dieser Ort neben der Nahrung auch eine emotionale Obhut bot, was am Gedichtende eindringlich mit „in zuflüchten geborgen mit allem / versorgt“ formuliert wird.
     Die Großmutter taucht in „Hinter der tür“ erneut auf. Hier befindet sie sich an der Schwelle des Todes, als Kind und Enkelkind sie noch einmal besuchen. Es ist ein sensibles und warmherziges Gedicht über das Sterben bzw. den langsamen Rückzug aus dem Leben. Und das Gedicht bildet einen sorgsam gewählten Übergang zur unmittelbar folgenden Hommage an Kito Lorenc. Ihm war Róža Domašcyna bereits 1969 im „Zirkel sorbischer junger Autoren“, den Lorenc leitete, begegnet. „Dieses haus“ ist das überbordend bewachsene des Dichters, das mit blühender Vielfalt und reicher Produktivität fast überwältigt. All das geht vom Schreibtisch des Dichters aus, der am Schluss unprätentiös sein Werk kommentiert und dann auch gleich weiterarbeitet. Mit diesen wunderschönen Bildern des Naturwachstums also erweist Domašcyna Lorenc und seinem Werk die Referenz.
      Literatur wird noch in anderer Hinsicht als kommunikativer Raum verstanden. Indem sie Jurij Khěžka, Johannes Bobrowski und Honoré de Balzac zitiert oder Bezüge zu Anna Achmatowas Lyrik herstellt (und viele weitere lassen sich nennen), verflicht Róža Domašcyna verschiedene Literaturen miteinander und mit der eigenen. In den Dialog begibt sie sich ebenso mit bildenden Künstlern, erweitert mithin den Blickwinkel auf bildkünstlerische Artefakte wie Skulpturen in „Auf der bahre ohne tuch“ und erkundet hier den Raum zwischen lebenden und künstlichen Körpern.
   Róža Domašcyna zeigt in „stimmen aus der unterbühne“ ihre großartige und zutiefst beeindruckende Sprachmacht und Bildkraft. Unbedingt bestätigt sie sich damit als überzeugende und wichtige Stimme der Gegenwartsliteratur. Die klare und markante Umschlaggestaltung des Bandes übernahm die Leipziger Grafikerin Franziska Neubert.


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