Rosmarie Waldrop: Voller Fehl: Edmond Jabès, erinnert und wiedergelesen
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Jan Kuhlbrodt
Rosmarie Waldrop: Voller Fehl: Edmond Jabès, erinnert und wiedergelesen. Übersetzt von Urs Engeler Schupfart (Urs Engeler Editor) 2021. 172 Seiten. 22,00 Euro.
Zu „Voller Fehl“ von Rosmarie Waldrop
„Aber es stimmt, Edmond Jabès schreibt Aphorismen, die per Definition, zumindest per Definition der Britannica, aus der Erfahrung stammen. Er schreibt keine Axiome. Keine selbst-evidenten Wahrheiten, die der reinen Vernunft angehören.“
Ich lese dieses Buch, und auf meinem Tisch wächst ein Stapel von Nebenlektüren, also von Büchern, die mir aufgrund der Lektüre zufallen. Bücher von Jabès selbst, aber auch Texte, die im Buch erwähnt werden. Dazu Erinnerungen an Texte, die von der Lektüre aufgerufen werden. An eigene Übersetzungsversuche. Vor allem an Texte, in denen die Wüste eine entscheidende Rolle spielt. Nicht nur als Metapher, sondern auch als das Sandmeer, die sie ist. Denn Jabès wurde 1912 in Algerien geboren.
Als ich vor dreißig Jahren in Frankfurt am Main Philosophie studierte, kaufte ich mir ein Buch Derridas wohl aus Trotz. Ein Trotz, der mein Interesse formierte, denn die Texte Derridas galten im kritisch theoretischen Frankfurt eher als Geschwätz, denn als Philosophie.
Ohnehin legte man um alles, was einen postmodernen Hauch hatte, einen Schleier, hinter dem es zwar nicht gänzlich verschwand, aber doch die Form annahm, die man ihm letztlich vorwarf. Es erschien uns als diffuses Leuchten, gewissermaßen als Nachttischlampe, die wir doch auf Erweckung aus waren.
Das Buch, das ich kaufte, hieß: „Die Schrift und die Differenz“, und es barg verschiedene Texte, die in Frankeich in den Sechzigerjahren erschienen waren, darunter der Essay: „Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch“. Ich las den Text in einer Art Abwehrhaltung.
„Die Differenz zwischen Rede und Schrift ist die Schuld, der Zorn Gottes, der aus sich heraustritt, die verlorene Unmittelbarkeit, und die Arbeit außerhalb des Gartens.“
Diesen Satz habe ich mir damals angestrichen. Und es ist der
einzige angestrichene Satz im ganzen Buch. Diese Unter-streichung auch spiegelt
meine ganze Ratlosigkeit angesichts der Lektüre, und von Jabès ließ ich lieber
die Finger. Sein Name hatte sich jedoch bereits in mein Gedächtnis eingegraben.
Vielleich als eine Art Samen, der sich im Trockenen verkapselt und so überlebt.
In diesem Sommer aber, und dieses Aber möchte ich doppelt
unterstreichen, änderte sich das, denn bei Engeler erschien das Buch „Voller
Fehl. Edmond Jabès – erinnert und wiedergelesen“ von Rosmarie Waldrop, in einer
Übersetzung Urs Engelers.
Seit Jahren, seit dem ich das auch bei Engeler erschienene,
von Elke Erb und Marianne Frisch übersetzte „Ein Schlüssel zur Sprache
Amerikas“ gelesen habe, lese ich alles von Rosmarie Waldrop, was mir unter die
Finger kommt. Zum Glück! Denn so ging auch kein Weg an dem Jabèsbuch vorbei,
und der Same des Namens kam mit Flüssigkeit in Kontakt.
Zunächst wäre zu sagen, dass Engeler das Buch grandios
übersetzt hat, und das auch zumal sich große Teile um die Arbeit des
Übersetzens drehen. Waldrop reflektiert über das Übersetzen Jabèsscher Texte
aus dem Französischen ins Amerikanische, und Engeler bringt diese Reflexionen
ins Deutsche. Und natürlich zielen die Reflexionen zuweilen ins Allgemeine und
reiben sich an theoretischen Erwägungen von Benjamin, Humboldt oder Blanchot.
Sie setzen sich von ihnen ab, konfrontieren die theoretischen Erwägungen mit
dem Erfahrungsraum konkreten Übersetzens. Denn das, was vorliegt, ist die Welt
als Text. Und in der Übersetzung projiziert die Welt auch ihre Grenzen als
Grenzen sprachlichen Verstehens. Übersetzen, so scheint es, ist über Grenzen zu
gehen, aber mit dem Sinn setzen sich auch die Grenzen über die sprachliche und
semantische Differenz, gehen mit.
„Leser, die Edmond Jabès auf Englisch lesen, lesen nicht Edmond Jabès. Sie lesen auch nicht Rosmarie Waldrop, sondern unseren Dialog, unsere Kollaboration. Eine notwendigerweise nicht perfekte Annäherung, die sich auf dieser feinen Linie zu verorten sucht, die so nahe wie möglich am Französischen ist, aber auch so weit wie möglich entfernt, damit der Text auf seinen englischen Füßen stehen kann.“
Und Engeler gelingt eine Parallelverschiebung ins Deutsche.
Das Buch indes beschränkt sich nicht auf die Reflexion über
das Übersetzen. Zugleich entwirft es ein Bild des Autors Jabès vor dem
Hintergrund geopolitischer Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts: Jabès,
ein Jude, der in Ägypten aufgewachsen ist, in Paris lebte und aufgrund eines
Erdbebens sich die italienische Staatsbürgerschaft zulegte und zuweilen die
Vereinigten Staaten bereiste.
Es ist ein Buch über Freundschaft, über die Begegnungen
zwischen Jabès und Waldrop in Paris und den Vereinigten Staaten, und es ist ein
Buch über die Form, die sich im Schreiben erst konstituiert. Nicht weil es
Vorgaben scheut, sondern weil diese nicht vorliegen. Es ist ein Buch über die
Abwesenheit Gottes; die Unausweichlichkeit des Todes. Und über Präsenz.
„Edmond Jabès geht langsam, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mit den stetigen Schritten eines Nomaden, Schritte, gesät vom Verlangen, dass die Wörter zusammenkommen, dem Rhythmus von Frage und weiterer Frage, der Kadenz des Kommentars.“