Rosmarie Waldrop: Pippins Tochters Taschentuch
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Jan Kuhlbrodt
Rosmarie Waldrop: Pippins Tochters Taschentuch. Roman.
Übersetzt von Ann Cotten. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2021. 275 Seiten. 24,00
Euro.
Zu Rosmarie Waldrop
Pippins Tochters Taschentuch.
Vorab ist zu bemerken, dass dieser Roman von Ann Cotten
kongenial übersetzt wurde, was dafür spricht, dass eine allzu große Nähe der
Übersetzerin zur Autorin des Originals nicht die Bedingung einer gelungenen
Übersetzung sein muss. Die Qualität des Textes und das sprachliche Vermögen der
oder des Übersetzenden sind es, die, wenn sie zusammenkommen, zu einem
großartigen Ergebnis wie diesem führen. Im vorliegendem Fall aber ist die geografische
Überschneidung der Lebenslinien von Waldrop und Cotten sicherlich noch ein
Plus, was dem Projekt zu Gute kam, aber vielleicht auch die Zeit, die zwischen
beider Geburt liegt, und so etwas wie einen historischen Abstand der
Übersetzerin zur Zeit der Handlung, aber auch des ersten Erscheinens
garantiert, und somit eine Konstruktion der Sprache erfordert, die allzu
schnelle Einfühlung und Identifikation verhindert und eine entsprechende
Objektivität erzwingt.
Die Fremdheit wäre also, wenn nicht Bedingung, so doch ein
Turbo der Erkenntnis. Aber das sind Spekulationen eines Hegelianers, der sich
in der aktuellen akut identitätsversessenen Zeit zunehmend entfremdet vorkommt.
Allerdings passt es wiederum zu jener Ebene der Handlungszeit des Romans, der
nämlich die Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einsetzt und
weit in die Dreißiger reicht und sich als dräuender Hintergrund einer
Dreiecksbeziehung im heraufziehenden und machtergreifenden Nationalsozialismus
abzeichnet. Fremd wird in dieser politischen Stimmung zu einem diffamierenden
Begriff, der das damit Bezeichnete letztlich der Vernichtung anheimstellt.
Die Mutter der später geborenen Protagonistin Lucy Frederika
lebt in einer Dreiecksbeziehung mit dem Lehrer Josef Seifert, mit dem sie auch
verheiratet ist, und ihrem Geliebten, dem jüdischen Musiker Franz, die beide wiederum
eine gemeinsame Vergangenheit als Flieger im ersten Weltkrieg hatten. Der
Handlungsstrang setzt in Bayreuth ein und führt aufgrund dieser Verwicklungen
nach Kitzingen am Main: Es werden Zwillinge geboren, wobei ungeklärt bleibt,
wer der Vater ist. Offiziell ist es der Lehrer. Josef beschäftigt sich mit
allerlei mystischem Kram wie Pendeln und Steinen, was ihm bei der Feststellung
der Vaterschaft allerdings nicht hilft. Ein gerichtliches Verfahren bringt auch
keine Klarheit.
Eine Legende der Gründung der Stadt Kitzingen bildet zudem
den Hintergrund des Titels des Romans. Diese Legende, die sich um den
fränkischen Königs Pippin dreht, verschweigt nämlich den Namen ihrer
Hauptperson, eben jener Tochter.
Pippins Tochters Taschentuch! Schon als ich das erste Mal
den Titel des Romans hörte, stellte sich eine Korrespondenz zu einem meiner
anderen Lieblingsbücher her, nämlich der in ihrem Titel ähnlich konstruierten
Erzählung von Peter Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers. Und ähnlich
dem Weisschen Opus arbeitet auch Waldrop mit den Momenten der Auslassung.
Vielleicht sogar noch konsequenter als Weiss, weil zum Beispiel das Schicksal
Franz Hubers ungeklärt bleibt, wiewohl man seine Möglichkeiten angesichts der
realen deutschen Geschichte erahnen kann. Allerdings bleibt die Hoffnung, er
habe irgendwie einen Weg ins Exil gefunden, eben nur eine Hoffnung vor der
Wahrscheinlichkeit, dass er in einem deutschen Konzen-trationslager
umgebracht worden sei. Die Mehrheit der Protagonisten arrangiert sich nach der
Machtergreifung mit den Nazis. Mitläufer, Mittäter. Und Hitler übt nicht
zuletzt auf die Mutter der Zwillinge auch einen gewissen erotischen Reiz aus.
Der Roman ist nicht linear erzählt, was die Lektüre
vielleicht zu einer Herausforderung macht, aber eben auch eine künstlerische
Dopplung des realgeschichtlichen Verlaufs vermeidet. Und die Sprache ist
großartig. Die Sprache trägt. Eine Rezensentin nannte sie ‚süffig‘, und auch
auf mich entwickelte sie einen enormen Sog.
Das Stilmittel hier ist das Kaleidoskopische, was meinem
Lese- und Rezeptionsverhalten sehr entgegenkommt. Die Logik der Abfolge der
Bilder und Situationen ist keine schnöde zeitliche, aber eben auch kein Hauptstrang
im Handlungsverlauf mit gelegentlichen Rückblenden: das Prinzip ist ein eher
musikalisches mit sich wechselseitig durchdringender Motivik. Diese
Korrespondenzen zum Musikalischen scheinen zuweilen auch textlich-inhaltlich
auf, zum Beispiel in einer durchaus kontroversen Wagnerrezeption. Aber unter anderen
auch Beethoven, Schönberg und Gluck finden ihre Momente. Dabei wird aber nicht
mit bildungsbürgerlicher Kenntnis geprahlt, sondern das musikalische Moment ist
in der Geschichte und ihren Protagonistinnen und Protagonisten situiert.
Allerdings machte es mir großes Vergnügen, die Lektüre zu Anlass zu nehmen und
mir nach langer Zeit mal wieder Schönbergs ‚Pierrot Lunaire‘ anzuhören.
Die knappen Nachworte von Ann Cotten und Ben Lerner bieten
neben Informationen auch eine Verbeugung vor der großen Autorin Rosmarie
Waldrop, der ich mich gerne anschließe.