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Ronya Othmann: die verbrechen

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Elke Engelhardt

Ronya Othmann: die verbrechen. Gedichte. München (Hanser Verlag) 2021. 112 S. 20,00 Euro.

Nur noch Wind da wo vorher Leben war
Ronya Othmann – die verbrechen


Eigentlich ist schon alles gesagt und geschrieben worden zu Ronya Othmanns Gedichtband „die verbrechen“. Gerade in den letzten Tagen sind in der FAZ und in der taz Rezensionen erschienen, vorher bereits in der Süddeutschen Zeitung, es gab Berichte im Radio. Viel Aufmerksamkeit für einen Gedichtband. Andererseits kann natürlich niemals alles gesagt sein, nicht über die Verbrechen, die den Jesiden angetan worden sind, und weiter angetan werden, nicht über Gedichte, die versuchen, Steine zurück zu legen.

        „[…] auf euren gräbern pflanzt ihr
        steine wie blumen. […]
        wer legt deinen weg zurück.
        wer legt ihn dir aus.

Klang und Doppelsinn der Worte liegen unter den Steinen, die Othmann nur leicht anheben muss, damit Bedeutungen, Andeutungen und ganze Geschichten hervorkommen. Zahlreich. Oft zornig.

„Othmanns Gedichtband schreibt sich her vom 3. August 2014. An diesem Tag überfiel die Terrormiliz „Islamischer Staat“ das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Nordirak. Es handelte sich um einen Vernichtungsfeldzug, in dem es zum Massenmord an der jesidischen Bevölkerung, zu ihrer Vertreibung, Verschleppung, Vergewaltigung und Versklavung kam,“ schreibt Philipp Böttcher in seiner Rezension in der taz.

Ist das so? Eines der Gedichte legt die Vermutung nah.
       Letztendlich ist dieses Datum „nur“ ein Punkt in einem weitaus unübersichtlicheren Geflecht, denn in Ronya Othmanns Lyrikdebüt „die verbrechen“ geht es auch um Familie, um das Vererben von Traumata, um das Zusammenleben mit einer Überzahl an Toten, die allesamt keines natürlichen Todes gestorben sind.

So wie die eingangs zitierten Gedichtfragmente, die ein Anfang sind, der sich (erst) aus dem Zurückgelegtem ergibt. Voraussetzungsvoll und schwer.

Manchmal erwecken Othmanns Gedichte den Eindruck, als sei es leicht, das Unerträgliche aufzuschreiben. Als gäbe es für alles die passenden Worte. Und gleichzeitig widerlegt der Band den Eindruck. Das macht ihn zu einer so eindrucksvollen Lektüre.
Dabei ist „die verbrechen“ nicht zuletzt ein Buch darüber, wie das Wissen über das, was geschehen ist, den Blick bzw. das, was wir sehen, verändert.

        „du siehst nicht, was du weißt“

Dass dieses Wissen dem Blick hinzugefügt wird. Weil man den Verlust nicht sehen kann. Nur als Fehlen. Als Lücke und Leerstelle. Als Steine, die auf den Gräbern liegen.

        „man muss die steine rückwärts lesen“

heißt es in einem Gedicht. Rückwärts, von nach den Verbrechen zu vor den Verbrechen, was natürlich unmöglich ist. Oder nur möglich mit der Schrift. Ein bisschen möglich. Es muss ein Sprechen sein, das fällt.

Aufgewachsen sei sie mit Erzählungen von Verbrechen. Erzählungen, die verlässlich mit der Bemerkung endeten, dass die Person, die diese Geschichte genauer erzählen könnte, nicht mehr lebt. Man könnte also sagen, Ronya Othmann ist mit den Geschichten der Toten aufgewachsen. Und vielleicht ist es an einigen Stellen genau dieses Erbe, das mit „du“ angesprochen wird. Auf jeden Fall ist dieses „du“ der Versuch, Zeiten, Per-sonen und zuallererst Verständnis herauf zu beschwören. Der Versuch, die Zeiten rückwärts zu lesen.

Othmann wurde 1993 in München geboren. Ihr Vater ist jesidischer Kurde. Sie lebt als Publizistin, Journalistin, Autorin von Prosa und Lyrik in München und Leipzig. Die Aus-einandersetzung mit Flucht, Vertreibung und Heimweh, hat sie zum Zentrum ihres Schreibens gemacht. Ihre Themen wieder-holen sich, treten aber in unterschiedlichen Formen auf, die dadurch wiederum immer neue Perspektiven ermöglichen.

        „[…] du hast deine sprache vergessen und
        stehst nun in ihrer schuld.
        als könnte man nur bannen, was hinter einem steht.
        wer bist du in diesem mangel an licht,
        wer bist du in diesen leeren straßen.
        wer bist du am ende der straße, wo der kohlegeruch im winter
        noch zwischen häusern hängt, als hätte ihn jemand dort vergessen.
        wer bist du bei deinem tod.

Viele der Gedichte speisen sich aus Erinnerungen. So ist das „du“ in den Gedichten zugleich Beschwörung, jemand, der angesprochen wird, aber auch Selbstgespräch. Durch all diese Möglichkeiten oszilliert das „du“.
       Dabei geht es auch um die Suche nach der eigenen Identität. Und um die Frage, was Sprache ausrichten kann gegen die Verbrechen an einem ganzen Volk, gegen dessen Traumata.
Festhalten, Dokumentieren, um die Steine rückwärts lesbar zu machen?

Aber es geht auch um „Verwurzelung“, deshalb sind auch Flora und Fauna so bedeutsam, so stimmig verwoben. Pflanzen sind häufig auftretende Bilder. Denn auch Pflanzen migrieren. Überhaupt illustrieren die äußeren Landschaften die inneren Landschaften.

Die Titel der Gedichte wiederum sind ungewöhnlich lang. Sie lauten z.B. „wer trocknete die teppiche im hof. wer füttert die tauben. wer ruft dich, wenn du gehst“ Tatsächlich funktioniert der Gedichtband auf diese Weise. Erinnerung wird als Landschaft heraufbeschworen, detailreich und schön, und dann bricht das Verbrechen in die Szene. Beides existiert nebeneinander und gleich-zeitig. Das macht das Lesen schmerzhaft und erträglich zugleich (und die Erinnerung vielleicht auch). Dabei ist „die landschaft immer auch ein protokoll“. Ein Protokoll, in dem auch die Sprache zur Landschaft wird:

        „beim sprechen schluckst du, suchst in steppen zart wurzelnde
        flechten, den linken ohrring deiner schwester.“

Alles läuft ineinander, und dann sieht man die Verbrechen. Aber man sieht sie immer so, dass man hinschaut und, soweit das möglich ist, sogar hinfühlt. Es ist immer so auf den Punkt dosiert, dass man nicht wegsieht und nicht abstumpft, für einen winzigen Moment teilt man den Schmerz.

Durch behutsame Verschiebungen, in die Othmann die Verbrechen legt, entsteht das Protokoll einer Anklage in Versen, die das Gleichgewicht zwischen Schrecken und Schönheit so austarieren, dass man ständig getroffen, immer weiter liest. Das ist auf eine Art desillusioniert, dass eine neue Illusion entsteht. Vielleicht gibt es doch Arten des Erzählens, die uns der Gerechtigkeit annähern. Und sei es nur für Millimeter. Es ist eine Bewegung.

        deine schwester trägt den namen einer blume, dein bruder
        den eines ermordeten

        du hast ein grab gesucht und ein
        feld gefunden. du hast drei schritte gemacht
        und sieben gezählt. es war das falsche.        
        es war september auf einer straße zwischen
        zwei städten, die du nur beim namen kennst. war es
        baumwolle oder weizen, haus oder grab.
        du hast nicht gefragt, als man dich zuhause
        rief, auf der suche nach einem feld
        zwischen zwei dörfern, die du nur
        beim namen kennst.
        straße oder hund, buchstabe oder zahl,
        kugel oder schwert,
        es war die hitze eines mittags,
        es war der schatten eines baumes.
        das dorf blieb man dir schuldig.
        alles andere hast du gesehen.
        du bist sieben schritte gegangen
        und hast keinen gezählt.
        drei tage später dann hast du den bus
        über die grenze genommen. die soldaten
        haben dich passieren lassen. neun stunden
        später hast du nicht mehr geweint.


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