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Rolf Schönlau: Beatrice Cenci - Der Mythos lebt, verändert sich, ist immer in Bewegung

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Rolf Schönlau

Beatrice Cenci –
Der Mythos lebt, verändert sich, ist immer in Bewegung


Das Bild ist ikonisch. Schon Goethe kannte es aus dem Palazzo Colonna in Rom. Das Gesicht der Cenci, heißt es in Dichtung und Wahrheit, enthalte mehr als alle Menschengesichter, die er je gesehen habe. Er brachte eine Kopie des Gemäldes vom Mengs-Schüler Friedrich Gotthard Naumann mit nach Weimar und zeigte sie Lavater, der einen Kupferstich davon anfertigen ließ und 1778 in den Physiognomischen Fragmenten abbildete. Und dazu schrieb: »Wir hören die Stimme der sanften Liebe aus diesen Lippen! Wir glauben die Güte und Unschuld zusammengeflossen zu sehen – O! wem so ein Gesicht nicht wohltut! und doch – erzitterst du nicht, Menschenherz? errötest du nicht, Physiognomik? und doch ist’s das Gesicht einer Vatermörderin, die zu Rom enthauptet wurde.«

In seinem Roman The Marble Faun (Der Marmorfaun) von 1860 beschreibt Nathaniel Hawthorne das Bild, d.h. nicht das Original, sondern eine Kopie davon, die seine Protagonistin Hilda aus dem Gedächtnis anfertigt, weil Enrico Colonna Barberini nicht erlaubt, das Gemälde, das seit 1818 in der Galleria Barberini hängt, vor Ort zu kopieren. Das tagelange Betrachten des Bildes, zu dem die Malerin immer wieder zurückkehrt, um Linienführung und Farbgebung zu studieren und sich alle Einzelheiten einzuprägen, führt dazu, dass sich die sonst mittelmäßige Kopistin das Original quasi einverleibt und ein Meisterwerk schafft.

»Das Bild stellte einfach einen weiblichen Kopf dar, ein sehr junges, mädchenhaft schönes Gesicht, das in ein weißes Tuch gehüllt war, unter dem sich eine oder zwei Locken einer anscheinend reichen, wenn auch verborgenen Fülle kastanienbraunen Haares verirrten. Die Augen waren groß und braun und blickten dem Betrachter entgegen, wobei sie offenbar, allerdings ohne Erfolg, seinem Blick auszuweichen versuchten. Um die Augen herum war eine leichte Rötung zu erkennen, so dass man sich fragen konnte, ob das Mädchen geweint hatte oder nicht. Das Gesicht war entspannt, kein Zug verzerrt oder verstört, so dass schwer verständlich blieb, warum der Ausdruck nicht fröhlich war oder der Künstler ihn nicht mit einem einzigen Strich aufgehellt hatte. Aber es war wirklich das traurigste Bild, das je gemalt oder erdacht wurde; es enthielt eine unergründliche Tiefe des Schmerzes, dessen Sinn sich dem Betrachter intuitiv erschloss. Ein Schmerz, der dieses schöne Mädchen aus der menschlichen Sphäre herausriss und in eine Ferne versetzte, so unendlich weit, dass wir vor dem Gesicht – auch wenn es noch so nahe vor uns ist – wie vor einem Gespenst erschaudern.«

Das Gemälde wurde zwei Jahrhunderte lang Guido Reni zugeschrieben und als Porträt der Beatrice Cenci ausgewiesen, die der Bologneser Maler am 11. Sept. 1599, dem Tag ihrer Enthauptung, auf dem Hinrichtungsplatz vor der Engelsbrücke gesehen haben soll. Einer Legende nach habe er sie sogar in der Nacht vor ihrer Hinrichtung im Gefängnis besuchen können, um Skizzen zu machen. Eine Szene, von der Achille Leonardi im 19. Jh. eine fiktive Darstellung malte. Abgesehen davon, dass Guido Reni nachweislich erst 1602 zum ersten Mal in Rom war, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass einer verurteilen Vatermörderin eine Porträtsitzung zugestanden wurde.

Eine weitere Legende besagt, dass Caravaggio bei der Hinrichtung dabei gewesen sein soll und die Cenci als Judith in seinem Gemälde Judith und Holofernes verewigt habe. Das Bild gehört ebenfalls zur Sammlung des Palazzo Barberini. Zumindest vom Alter her wäre in Caravaggios Judith viel eher eine 22jährige junge Frau wie Beatrice dargestellt, als in dem anonymen Mädchenporträt der Bologneser Malerin Ginevra Cantofoli, die heute als Urheberin des Cenci-Bildes gilt. Eine Zuschreibung, die auch dazu beigetragen haben mag, dass das Porträt zu einer feministischen Ikone wurde. Mit der Aufnahme in den Zigaretten-Bilderdienst Hamburg-Bahrenfeld gehörte die Cenci seit 1933 in den illustren Kreis der »berühmten und berüchtigten Frauen der Weltgeschichte«.

Der Rechtshistoriker Wolfgang Schild rekonstruiert in seiner Fallstudie den historisch verbürgten Tathergang: Am frühen Morgen des 9. Sept. 1598 wurde der römische Patrizier Francesco Cenci in der Burg Petrella del Salto bei Rieti, angestiftet durch seine Tochter Beatrice, seine Frau Lukrezia und seinen Sohn Giacomo, von dem Kastellan Olimpio Calvetti und dem Hufschmied Marzio Catalano mit einem Hammer erschlagen. Beatrice, Lukrezia und die beiden Bediensteten brachten die Leiche auf die vorgelagerte Galerie und warfen sie durch ein präpariertes Loch im morschen Fußboden, um den Mord als tödlichen Unfall beim Aufsuchen des Aborts aussehen zu lassen. Allerdings waren die Verschwörer so unvorsichtig, das blutverschmierte Laken nicht verschwinden zu lassen, sondern der Frau des Kastellans zur Wäsche zu geben. Außerdem heuchelte Giacomo Cenci, der sofort aus Rom angereist kam, nicht einmal Trauer um den Vater. So kam es zur Untersuchung und Anklage gegen Tochter, Mutter und Sohn.

Stefan Zweig weist in Legende und Wahrheit der Beatrice Cenci von 1926 auf eine auffällige Übereinstimmung mit der Kriminalgeschichte in Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow hin: »Genauso wie bei dem alten Karamasow tobt hier zwischen Francesco und seinen Kindern ein erbitterter Kampf um das Erbe, das er ihnen vorenthält, um das Geld, das er einzig zur Lust verwendet, die anderen zu knechten. Genau wie Karamasow zieht sich schließlich gehetzt und erschreckt der grausame Alte auf ein abgelegenes Gut zurück, in die Petrella, und genau wie Fjodor seinen Sohn Aljoscha aus dem Kloster reißt und mitschleppt in seine verbitterte Einsamkeit, so führt Francesco Cenci seine zweite Frau Lukrezia und seine sechzehnjährige Tochter Beatrice mit sich als Gefangene in das vermauerte, unheimliche Schloss. […] genau wie Fjodor nachts auf ein gegebenes Zeichen mit dem Hammer, so wird Francesco von den Verschworenen überfallen, nachdem man ihm zuvor einen Schlaftrunk gegeben.«

Es ist davon auszugehen, dass Dostojewski, als er Ende der 1880er Jahre den Roman schrieb, die fast 300 Jahre alte Geschichte kannte. Neben Nathaniel Hawthorne hatten Percy Bysshe Shelley 1818, Stendhal 1823, Charles Dickens 1846 und Herman Melville 1852, um nur die wichtigsten Autoren zu nennen, über den Fall Cenci geschrieben. In allen Darstellungen stand die, allerdings in den Gerichtsprotokollen nicht belegte, Vergewaltigung Beatrices durch ihren Vater im Mittelpunkt, so auch später bei Antonin Artaud 1935 und Alberto Moravia 1958. Die Bösartigkeit des Vaters gipfelt im Inzest, der den Vatermord als gerechtfertigt erscheinen lässt, als Notwehr, wie auch die Verteidigung im Prozess argumentierte.

Da die Verhöre, zu denen nach damaligem Rechtsverständnis die Anwendung der Folter gehörte, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, verbreiteten sich leicht Gerüchte. Es hieß, Lukrezia und Giacomo seien bei der Strickfolter geständig gewesen, nicht so Beatrice, die sogar eine speziell für sie erfundene Haarfolter überstanden habe. Die Akten wurden Papst Clemens VIII. als Gerichtsherrn im Kirchenstaat vorgelegt, der im Begriff gewesen sein soll, Beatrice zu begnadigen. Als aber am 6. Sept. 1599 Paolo Santa Croce seine Mutter wegen einer Erbstreitigkeit erdolchte, habe der Papst ein Exempel statuieren wollen, um den grassierenden Mordfällen innerhalb von Familien des Hochadels Einhalt zu gebieten.

Die Hinrichtung war ein großes Schauspiel. Beatrice in schwarzem Nonnengewand und Schleier, ein Kruzifix in der Linken, schritt unter Gebeten zum Schafott. Ihr mit Blumen bestreuter Leichnam wurde vom der Engelsbrücke zum Petersdom überführt und vier Stunden vor dem Hochaltar aufgebahrt. Begraben wurde sie unter der Treppe vor dem Hauptaltar der Kirche San Pietro in Montorio auf dem Gianicolo ­– wie eine Heilige und Märtyrerin.

In ihrem Testament vermachte Beatrice Cenci ihr Vermögen der Kirche sowie einen kleinen Teil der Madonna Caterina de Santis, die 300 Scudi in bar erhalten sollte. Die Summe, die drei Tage vor der Hinrichtung um weitere 500 Scudi erhöht wurde, war für ein nicht weiter genanntes Pflegekind zu verwenden. Es wird vermutet, dass es sich dabei um einen Sohn aus ihrem Verhältnis mit dem Kastellan Olimpio Calvetti handelte.

1999 ließ die Stadt Rom anlässlich des 400. Todestags am ehemaligen Gefängnis in der Via di Monserrato, wo Beatrice Cenci bis zur Hinrichtung inhaftiert war, eine Gedenktafel anbringen, auf der sie als »beispielhaftes Opfer einer ungerechten Justiz« bezeichnet wird. In der Kirche San Tommaso ai Cenci, Teil des Palazzo Cenci im Stadtteil Sant’Angelo, findet an jedem 11. September eine Gedenkmesse statt.


- Nathaniel Hawthorne: The Golden Faun, Chapter VII, Boston 1860, aus dem amerikanischen Englisch von RS.
- Wolfgang Schild: Historisches Folter(un)recht. Die Kriminalgeschichte der Beatrice Cenci (1598/99), Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 10/2018, S. 408–427, ‹https://www.zis-online.com/dat/artikel/2018_10_1233.pdf›.
- Stefan Zweig: Legende und Wahrheit über Beatrice Cenci, 1926,
‹https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/histpers/chap001.html›.


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