Robert Macfarlane, Jackie Morris: Die verlorenen Wörter
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Amadé Esperer
Die verlorenen Wörter wiedergefunden
Wofür wir keinen Namen haben, darauf können wir uns nicht beziehen. Die deutsche Sprache hält, wie auch die englische, einen großen Reichtum an Namen für Pflanzen, Bäume und Tiere bereit und bildet so das Spektrum von Flora und Fauna detailreich ab. Wir könnten also, wenn wir wollten und die Namen kennten, detailreich und farbig über die Natur sprechen. Aber, so scheint es, hat die Urbanisierung und die Zurückdrängung der Natur aus der Stadt und unseren Lebensräumen dazu geführt, dass wir die einmal abundante Flora und Fauna, die unseren Eltern und Großeltern noch durch tägliche Erfahrung gut bekannt war, gar nicht mehr kennen. Was man nicht kennt, das nennt man auch nicht, das kommt in unserer geistigen Welt nicht mehr vor. Die zunehmende Entfernung von der Natur, aufgrund mangelnder Erfahrung in der Natur, lässt sich vor allem bei unseren Kindern beobachten.
So zeigte eine 2018 veröffentlichte Studie der Münchner Universität an knapp 2.000 bayerischen Schülerinnen und Schülern zwischen 10 und 19 Jahren, dass Kinder und Jugendliche in Bayern immer weniger einheimische Vogel-arten kennen. Während die meisten noch wussten, was eine Amsel ist, waren nur einem Drittel der Befragten Spatzen ein Begriff. Eine 2016 in Nordrhein-Westfalen durchgeführte Untersuchung zeigte, dass nur 12% der befragten Schüler* innen Brombeeren, Himbeeren, Blaubeeren oder Bucheckern kannten.
Die zunehmende Naturferne macht sich auch in unserer Sprach- und Gesangskultur bemerkbar, wie die Psycholo-ginnen Selin und Pelin Kesenir nachgewiesen haben. Die beiden untersuchten Tausende von englischen Liedtexten, Romanen und Drehbücher, die seit 1900 erschienen waren, und fanden, dass seit den 1970er Jahren gut die Hälfte der noch 1950 vorkommenden Vogel-, Baum- und Blumennamen und weitere Naturbegriffe 2017 aus dem englischen Sprachgebrauch verschwunden war.
Als die Jugendausgabe des Oxford Dictionary neu aufgelegt wurde, waren darin denn auch sehr viele Wörter, die einen Bezug zur Flora und Fauna hatten, wie Brombeere, Kanarienvogel oder Grasland, nicht mehr zu finden. Dies brachte Robert Macfarlane auf den Plan. Zusammen mit der Illustratorin (und Autorin) Jackie Morris schuf er als Reaktion auf das verbale Artensterben im Oxford Dictionary das bemerkenswerte Buch »The Lost Words«, worin in Vergessenheit geratene Namen von Pflanzen-, Baum-, Blumen-, Vogel- und anderen Tierarten, mnemotechnisch geschickt, mit kurzen Gedichten und zarten Aquarellen wiederbelebt wurden.
Es ist das große Verdienst von Matthes & Seitz, dieses Buch nun auch für den deutschen Sprachraum verfügbar gemacht zu haben. Die exquisite Aufmachung im Folioformat mit Fadenheftung verleiht dem Buch schon äußerlich eine besondere Aura. Schlägt man es auf, hat man das Gefühl, ein sehr kostbares Werk in der Hand zu halten.
Die einfühlsame Übersetzung der als Akrosticha angelegten Gedichte besorgte die Lyrikerin Daniela Seel. Sie lässt die Magie vergessener Wörter, wie etwa Imme, Durmentill, Wollgras, Bätze, Mollbeere, quillen und treideln in raffiniertem Kontrast zu hypermodernen Wörtern, wie ixen und glitschen aufleuchten. Wer weiß schon noch, dass Imme ein aus dem Mittelhochdeutschen stammendes Wort für Biene oder, dass Durmentill ein Synonym für die rosenartige Blutwurz ist. Diese und andere in Vergessenheit geratenen Wörter kommen, samt allerlei Synonyma, in spielerisch poetischer Weise in zahlreichen Gedichten zum Einsatz, wo es darum geht, Pflanzen, Blumen, Bäume, Vögel und Tiere wie beispielsweise Farne, Efeu, Lerche, Elster, Natter, Wiesel oder Otter so zu bedichten, dass alles achrostichisch ausgeht, d.h. dass die Buchstaben der Zeilenanfänge nach unten gelesen jeweils den Namen des bedichteten Lebewesens ergeben:
HeideHeide ist nie einfach Heide,wie Moor nie bloß Moor ist.Einmal in Heide gebettet, ihr Wettergeschmeckt, wie sie alles teilt mit denIhren: Affodill und Mollbeere, Wollgras undKrähenbeere, gemeinsam wächst mitDurmentill, Mooskissen, der Flechten Gefieder?
….
Der Eisvogel wiederum erstrahlt unter den dichtenden Händen von Seel in einem funkensprühenden Assonanz-und Alliterations-Feuerwerk wie ein wahrer Phönix:
Eisvogel: der Farbengeber, Feuerbringer, Flammenschnipser,Flusses Zittern.Isenschwarzer Schnabel, Hals orange, am Rücken glostein wilder blauer Federnstrom. HocktSchmuck und leis auf einem Wurzelzweig, bis mit…Verve: Godlodern, Schwingenfächer, Peitschenknall der Eisvogel –Pfeifvogel, Preisvogel! – abwärtsstürzendOszilliert, schneller als dein Blick, fix und fixer seine Wasserkerbe…
Die lästerliche Elster dagegen bekommt in einem Manifest ihr Fett mit umarmenden Schlagreimen ab:
Elstermanifest…Trag in jeden Winkel Streit!Eklig sei! Greif ein, quatsch rein, stör dabei! ...
…
Der Löwenzahn hingegen wird mit allerlei früher gebräuchlichen, aber kaum noch bekannten, sowie mit neu erfundenen, im onomatopoetisch gestalteten Kehrreim auftauchenden, Synonyma bedacht:
Lock mich an, kleine Sonne im Gras!Ör in eine andere Zeit, spinn mich ein!(Tick-tock, Sonnenglocke, Distel und Locke)Wer kennt dich noch alsEinfache Hundeblume, Milchstock, Ackerzichorie oder(Tick-tock, Sonnenglocke, Nessel und Pocke)Nur als Mönchskopf, Pfaffenröhlein, Bettseicher, soZettel neue Namen an, wurzle und wachse von ihrem Klang(Tick-tock, Sonnenglocke, Rassel und Socke)…
Jedem Gedicht zur Seite gestellt sind jeweils mehrere Aquarelle, welche die bedichteten Blumen, Pflanzen, Vögel, etc. jeweils einzeln im biotopischen bzw. sozialen Kontext zeigen. Die Abbildungen steigern den ästhetischen Mehrwert des Buches enorm und machen ihn gleichermaßen für Kinder und Erwachsene attraktiv. Mir ist es eine wahre Freude gewesen, in dem Band zu blättern und die teils sehr meditativen bildgerahmten Gedichte auf mich wirken zu lassen. Dieses Buch ist rundherum gelungen und verdient eine größtmögliche Leserschaft.
Robert Macfarlane, Jackie Morris: Die verlorenen Wörter. Übersetzt von Daniela Seel. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 134 Seiten. 38,00 Euro.