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René Hamann: Das Protokoll

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Foto: Timo Berger
René Hamann
DAS PROTOKOLL


Ich dachte über die vorhergegangenen Vorfälle nach. Ich hatte versucht, Erkundungen einzuziehen, aber es war nichts aktenfällig geworden. Aus den zuständigen Stellen war nichts herauszubekommen. Es war fast, als ob nie etwas geschehen wäre.

Die Geschichte der Röhre. Nachtschicht, und nichts zu tun. Der Junge saß in der Zentrale und war nicht einmal müde. Bilder zirkulierten stumm vor sich hin. Sie gingen ihn nichts an in dieser Nacht. Kaum etwas ging ihn etwas an in dieser Nacht. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt. Er schaute in das schwarze Loch, das sich vor ihm breit machte, ein saugendes, schwarzes Loch. Etwas mit Tod und Einsamkeit oder Einsamkeit und Tod. Der Tod ist das Einsamste, was man sich vorstellen kann. Niemand war da, niemand schlurfte durch die Etagen des Kombinats, niemand meldete sich. Cheryl schlief, Ondine war seit Tagen nicht erreichbar, der Junge saß allein in den großen, schalldichten, sterilen Räumen, die tags so menschengefüllt und lebendig waren, nur jemand vom Wachpersonal war noch da, streifte durch leere Korridore, strich über den ausgestorbenen Parkplatz, hakte markierte Punkte ab, es war der Hundeführer, ansonsten lief alles auf Autopilot.

Nach einigen zähen Stunden war dem Nachtportier nach Bewegung, also ging er los. Er winkte mit der Karte und verließ das Büro. Er stand im müden Schein der Außenscheinwerfer und sah die Fassade des Seitentrakts hinauf, aber hinter den dunklen Fenstern bewegte sich nichts. Er ging über den autofreien Parkplatz, rechts an der alten Mauer vorbei, die Straße hinab, hinein in das Röhrenwerk, in den Tunnel. Er wusste, dass es ganz in der Nähe ein Nachtcafé geben musste, ein Abschlepplokal, Treffpunkt für die Arbeitenden der Nacht, für das Service- und Wachpersonal, die einfachen Mitarbeiter, Taxifahrer, Nachschichtler, das Gewerbe, die schlaflosen Workoholiker, eine Spelunke wie in einem alten Film, in der es auch etwas zu essen gab. Spiegelei mit Bratkartoffeln, Pommes Frites, Frikadellen. Er fand es in einer Seitenstraße. Irgendeine dösige Musik kam aus einer alten Stereoanlage, die Luft stand, obwohl auch hier nicht mehr geraucht werden durfte, die Tresen schienen aus verklebtem oder verharzten Holzimitat, die öffentliche Welt hatte diesen Ort ignoriert, mehr als sechzig Jahre lang. Dass die Menschen hier auch Menschen waren, erstaunte ihn fast. Er hatte mit Mutationen gerechnet. Auch die Mahlzeit sah relativ echt aus. Auch wenn sie ebenso ein Imitat war.

Er aß, eher pflichtbewusst als hungrig. Niemand schien ihn zu beachten, alle brüteten maulfaul vor sich hin. Die Bildschirme blieben leer. Es gab sie ja, selbst hier gab es sie, oder gerade hier, das war ja das Seltsame, dachte er, dass die Bildschirme in die letzten Ecken der Welt hinein strahlten, an Orten, die von den Machtzentralen am weitesten weg waren. Das Brüten schien zu diesem Ort zu gehören; die einfache Mahlzeit verschwand wie von Zauberhand; das Getränk verzog sich in ihn wie in Blumenerde.

Und jemand sah herüber. Jemand beobachtete ihn. Ein älterer, verhärmter, beleibter Mann mit einer roten, gewucherten Nase. Dachsblonde Haare klebten an seinem Kopf. Er machte einen mürrischen Gesichtsausdruck, und über seinem massigen Leib trug er eine Felljacke. Der Junge wollte an grün gekachelte Schwimmbäder denken, an eine Art transzendentaler Entspannung, an einen Gegenort, aber die Beobachtung berührte ihn so unangenehm, dass er umgehend zahlte, aufstand und ging. Er war gerade draußen auf dem Weg zurück ins Licht, noch immer in der Röhre, da hörte er die Eingangstür ein zweites Mal gehen, und jemand mit schweren Schritten ihm folgen, und das war natürlich der Mann.
    »He, Don Camillo, warte mal.«
    Der Junge beschleunigte seinen Schritt, der Mann auch, das Ende des Tunnels schien sich weiter zu entfernen, statt näher zu kommen.
    »He, du.«
    Der Junge sagte nichts. Er rannte jetzt fast. Er sah nicht zurück, hielt sich geradeaus. Ein Schattenriss zeigte sich an der Röhrenwand, unterhalb der alten Neonlampen, lief über die Luftschächte hinweg, es war sein eigener, aber ein größerer Schattenriss wollte folgen. Ob er auch solche Angst hatte? Was war das eigentlich, Angst? Er erinnerte sich an die Nazis vor dem Hotel neulich, die ihn beobachtet hatten. Er erinnerte sich an den Augapfel in der Toilettenwand. Er erinnerte sich an die Panik auf der Party im Turm, der Panik, sozial aufzufallen, nur weil ihm der Kreislauf nach unten sank. Er blutete aus den Zähnen. Schwarzer Regen fiel. Ein durchgeschossener Arm. Große, militärisch grüne Mülltonnen rollten ihm entgegen. Er wich aus, er spürte den Atem des Zombies im Nacken. Nein, Zombies atmen nicht. Er stellte sich eine Behausung vor, eine Rumpelwohnung, absolute Erbärmlichkeit, die von seiner eigenen nicht weit entfernt war. Tatsächlich lief er schon lange vor den Zombies davon. Und sie schienen ihn immer wieder zu stellen, berühren zu wollen, ihn heranzuziehen. Der Mann hinter ihm sagte nichts, er keuchte, nichts war ein Ereignis mehr, ein unförmiger werdender Körper zeigte sich im Hellen, hinter ihm, während der Morgen graute, morgen beschäftigen uns viele Wolken, bitte berühren Sie den Bildschirm.

Austretende Augen.
Ein dünner Geruch nach Angstschweiß.
Die Polizei bewacht unseren Schlaf.

Sie erreichten den Parkplatz des Kombinats, dann lief der Junge schnell nach links, dem Haupteingang entgegen, der Mann folgte, schwer atmend, keine Ahnung, was er wollte, ob es um Kohle ging, um Prügel, um einen sexuellen Übergriff, um einfach etwas Reden. Am Haupteingang stand Aufsichtspersonal, eine Uniform, ein Schlagstock, eine Handfeuerwaffe, ein Hundeführer, kein Hund.
    »Helfen Sie mir.«
    »Was ist denn los.«
    »Der Mann verfolgt mich.«
    »Können Sie sich ausweisen?«
    »Ich arbeite hier.«

Blick auf eine Tischplatte: Die Waffe des Hundeführers. Der Junge machte sich einen Kaffee und fand sie in der unteren Ablage. Er legte sie vor sich auf den Tisch. Die Gelegenheit, sich die Kugel zu geben, war ihm diffus bewusst. Ein seltsames Gefühl. Aber er fasste die Waffe nicht nochmal an. Das Radio spielte Heavy Metal. Der Hundeführer kam von seiner Runde zurück und löste Kreuzworträtsel. Die Waffe beachtete er nicht. Mag sein, er sah sie erst gar nicht, hielt sie für normal. Mag sein, dass er nichts bemerkt hatte, oder er hatte sich entschieden zu schweigen. Schweigen als Grundzustand, eigentlich ganz angenehm, auch zu dem Vorfall mit dem irren Alten aus der Nachtbar fiel kein Wort mehr, der Schäferhund schlief friedlich draußen vor der Tür. Von der Musik fallen dir doch die Eier ab, sagte der Hundeführer dann nach einer Weile.

Als der Junge einmal mit dem Auto seiner Eltern zur Arbeit fuhr, sah er auf der Gegenfahrbahn ein brennendes Wrack, einen lichterloh brennenden Wagen. In der Nähe des Wagens war niemand zu sehen. Kein Unfallopfer, keine Sanitäter, keine Schaulustigen. Einmal ließ er die Red House Painters über die gesamte Lautsprecheranlage laufen, langsame, ultratraurige Musik, die durch die leeren Korridore des Kombinats schallte, der Hundeführer hatte sich da bereits verabschiedet. Als der Junge ein junger Junge war, erinnerte er sich, während er durch die so beschallten Gänge schlenderte, ist er zu Karneval einmal als Don Camillo gegangen. Ein schwarzer Kaftan, ein lustiger runder Hut. Eigentlich hätte er als Peppone gehen sollen, als kommunistischer Bürgermeister, aber für kommunistische Bürgermeister gab es keine Verkleidung, sie sahen so normal aus wie alle.

Am Ende der nächsten oder übernächsten Schicht löste ihn der schwule Kollege ab. Wortkarg auch er, schmuddelig, mit wässernen Augen. Er hatte Schmuddelhefte in der Ablage versteckt, in der die Waffe des austretenden Hundeführers gewesen war. Nackte Männer mit eingeölten Schwänzen, gänzlich unerigiert. Manchmal auch nur die Schwänze, glitschig. Der Junge wurde Augenzeuge eines leeren Herzens. Er fragte sich, wen unerigierte Schwänze interessierten. Klar, es gab da diesen Paragraphen, der die Gradzahl der Erektion regulierte. Aber so unerigiert?

An dem Tag, an dem die Russin in einer der Frauengarderoben aufgefunden wurde, hatte sich der Junge lange mit seiner Freundin gestritten, und kam infolgedessen fast eine halbe Stunde zu spät zur Arbeit, obwohl ihm seine Freundin in einem Versuch der Versöhnung ihr Auto, einen weißen VW Lupo, geliehen hatte. Der Streit war über die Frage entbrannt, wer die Strafzettel bezahlen sollte, die sie beim Falschparken vor seiner Wohnung verursacht hatte. Sie war der Meinung gewesen, dass ihr Auto gewissermaßen auch sein Auto sei, und dass sie Einsatz gezeigt habe; sie habe sich die Mühen einer Autofahrt mit anschließender Parkplatzsuche auferlegt, um zu ihm, ihrem geliebten Freund, zu kommen. Also solle er die Hälfte der Strafe übernehmen, auch weil es in seiner Gegend schwierig war, einen Parkplatz zu bekommen, und sie keinen Anwohnerparkausweis hatte. Er hatte gemeint, dass er nicht für ihre Fehler im Straßenverkehr aufkommen wolle; er würde doch auch nicht zahlen, wenn sie beim Fahren über eine rote Ampel erwischt werden würde. Ironischerweise konnte er an diesem Morgen keinen Parkplatz vor dem Kombinat finden, die Parkplätze, die zum Haus gehörten, waren allesamt besetzt, und so musste er auch angesichts der Zeit im wenn auch temporären Parkverbot parken.

Als er das Auto verließ, brauste der Notarztwagen mit der Leiche an ihm vorbei, von der er in diesem Moment noch nichts ahnte. Im Büro erwartete ihn sein Chef, der ihm die Mitteilung machte, dass er Verspätungen nicht dulde. Er sei fristlos entlassen.


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