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Renate Schmidgall: Kein Verlass auf Uhren und Gestirne

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Barbara Zeizinger

Renate Schmidgall: Kein Verlass auf Uhren und Gestirne. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Michael Krüger. Berlin (Secession Verlag) 2025. 134 Seiten. 18,00 Euro, ISBN 978-3-96639-136-8

Mit Poesie durchs Leben


Seit Jahre lese er in verschiedenen Zeitschriften »diese betörend schönen Verse« von Renate Schmidgall, und endlich habe der Secession Verlag die Initiative ergriffen, sie in einem Buch zu versammeln. Das schreibt Michael Krüger in einem Nachwort zu dem Lyrikband von Renate Schmidgall, »Kein Verlass auf Uhren und Gestirne«.

Renate Schmidgall, die bekannte und mit vielen Preisen ausgezeichnete Übersetzerin sowohl von Lyrik als auch von Prosa aus dem Polnischen, hat nicht nur die Arbeit von Karl Dedecius fortgesetzt, sondern sich in Polen auch mit ihrer eigenen Lyrik einen Namen gemacht. So erschien 2018 in der Biblioteka Telgte der zweisprachige Band »Nach Weinsberg fahren / Pojechać do Weinsberg«. Nicht zufällig erinnert dieser Titel an das bekannte Gedicht von Adam Zagajewski »Nach Lemberg fahren«, und dieser war es auch, der neben anderen polnischen Autoren Michael Krüger gebeten hat, sich für die Veröffentlichung der vorliegenden Gedichte einzusetzen.

Und nun sind sie da. Gedichte, die in dreißig Jahren entstanden sind und die vor uns einen ganzen Kosmos ausbreiten. Den Kosmos des Lebens mit allem, was dazugehört. Trauer, Liebe, Heimat, Ferne und immer wieder Menschen, denen die Autorin begegnet ist.
Es sei Renate Schmidgalls große Kunst, das Schwere leicht zu formulieren, schreibt Michael Krüger. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass Leben und Lyrik bei ihr miteinander verwoben sind, ihre Worte und Sätze im Alltag entstehen. »Ein Geschenk fürs Kind gefunden / und das Gedicht / mit dem ich gestern einschlief / das die Nacht verschüttet hatte«, heißt es in »Der Mühe wert« und in »Donnerstag« beschreibt sie, wie sie nach einem Einkauf den Kühlschrank füllt, den Einkaufszettel gerade wegwerfen will und dann »drehe ich ihn unwillkürlich um und lese das Zitat von Bruno Schulz, das ich vor Monaten notiert habe: ›An allem schuld ist der schnelle Zerfall der Zeit.‹«
In den meisten Gedichten sind es die konkreten Dinge, die dazu beitragen, dass ihre Lyrik sehr sinnlich ist. Es ist das weiche Mehl der Kindheit, die Kittelschürze der Mutter oder die letzten Himbeeren beim Warten auf den Tod des Vaters. Auch die Gedichte über die vielen Reisen, die die Slawistin Renate Schmidgall immer wieder in den Osten, nach Moskau, auf die Krim und vor allem nach Polen führten, leben von Erzählungen über alltägliche Situationen. »Im Laden zwischen den schäbigen Wohnblocks / kaufte ich ein Glas mit vergilbtem Schild / und zerfranstem Stempel: Kürbismarmelade«, schreibt sie in dem Gedicht »Sopot, achtziger Jahre.«

Die Beschreibungen sind allerdings kein Selbstzweck, sondern führen wie in »Jalta, Hotel Massandra« zu philosophischen Aussagen: »Im Hof die singende Sprache, einzelne Wörter / schälen sich aus dem abnehmenden Licht: / ›Pajdjom dawaj, wsjo rawno‹ – die Russen / vom zweiten Gebäude gehen zum Abendessen. // Die rosaroten Blüten der Akazie verblassen, / schwarz stehen die Zypressen zum Himmel, / und Tschechow hat recht. Die Erfüllung / liegt irgendwo außerhalb des Lebens.«  

Nicht unerwähnt dürfen die Gedichte bleiben, die »ihren« polnischen Autoren gewidmet sind und mit denen sie freundschaftlich verbunden ist. Auch in diesen Zeilen ist zu spüren, wie feinfühlig Renate Schmidgall ihre Worte setzt, denn die Gedichte beziehen sie jeweils auf den Autor mit seinem Werk und seiner Landschaft. Mit Andrzej Stasiuk befindet sie sich beispielsweise in den Beskiden, zehn Kilometer vor Belżec, was an dessen Roman »Grenzfahrt« erinnert, und für Adam Zagajewski hat sie ein Gedicht über seine Heimatstadt Lemberg geschrieben sowie »Trauriger März«, eine Elegie auf seinen Tod. »So viele Freunde hast Du gehen sehen, / warst Spezialist für den poetischen Nachruf. // Nun rufe ich. Ob Du mich hören kannst? Wir wissen es nicht.«

»Ich hätte Maciej nach Rhodos bringen sollen«, schreibt die Autorin nach dem Tod von Maciej Niemiec, dem sie sechs Gedichte gewidmet hat. Sie sind im Band zerstreut, doch liest man sie zusammenhängend, sprechen sie von einer engen Freundschaft.

Renates Gedichte würden eine Leuchtspur legen, schreibt Michael Krüger in seinem Nachwort. Eine Leuchtspur, die uns nicht nur durch viele Orte und zu vielen Menschen, sondern auch durch das Jahr führt. Außer Dezember sind alle Monate vertreten, auch das ist ein Zeichen, wie wichtig der Autorin ihre Umgebung ist. Bleibt zu hoffen, dass viele Leserinnen und Leser ihrer Spur folgen werden.


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