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Reinhard Kiefer: die urwelt steht ihnen offen

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Timo Brandt

Inmitten des Geläufigen gleitet der Glanz


„eines muss man bedenken die
saurierforscher sind viel unterwegs
die urwelt steht ihnen offen“

Die Urwelt, das ist die Anbeginn-Welt, aber nicht nur die der Erde, sondern auch die eigene. Der Ursprung, an den wir uns nicht annähern können, denn wir entfernen uns beständig. In W.H. Audens Gedicht „As I walked out one evening“ heißt es:

„The years shall run like rabbits,
  For in my arms I hold
The Flower of the Ages,
  And the first love of the world.“

Die Blume aller Zeiten blüht in jedem Leben neu und erscheint diesem Leben neu – diese Ambivalenz macht die Dimension des Lebendigen aus: es gibt sie nur einmal, denn wir unterscheiden klar zwischen Belebtem und Unbelebtem, aber dennoch gibt es sie tausendfach, denn alles Belebte erlebt sein am-Leben-Sein auf eigene Weise. Das Ganze ist hier nur der Nenner für die unendliche Reihe seiner Teile.

Die Urwelt ist der Raum, der in den Fossilien und Knochen der Dinosaurier ruht, den antiken Tempeln, den toten Sprachen, sich aber ausbreitet von dort über alles, jede Epoche, jede Geschichte, die der und die Lebende nicht miterlebt haben, die aber erlebt wurde; am Ende schiebt sie sich sogar über unsere Kindheit, wenn wir ihr entwachsen. Die Kindheit wird zur Urwelt, zum Anbeginn, zum Raum in dem vieles ruht, was einst lebendiger nicht hätte sein können.

„damals waren die tage sehr lang und die nächte
sehr dunkel

man hörte die ganze nacht radio und doch war man
tagsüber nicht müde

das leben bestand vorzugsweise aus schnitzeljagden“

In Reinhard Kiefers Gedichtband, dessen Titel gleichsam Aufforderung und Verheißung zu sein scheint, wird die Urwelt nicht vis-a-vis, sondern eher peripher in Augenschein genommen. Die zumeist kurzen Texte gleiten mit ihrer Sprache über die spiegelnden Flächen eines Augenblicks, eines Bildes, einer Erinnerung, einer Geschichte, einer Feststellung und wirken dann und wann geradezu nachlässig in ihrem Fokus, ihrer Entschlüsselung der Situation. Als würden sie sich trotz ihrer Zuwendung schon wieder abwenden.

„die gesichter der heiligen
sind kaum zu erkennen ihre bärte
wuchern wie unkraut die spiegel
(man weiß noch wie man
hineinschaut) sind alle sehr blank"

Mit der Zeit wird aber klar, dass sich Kiefers Sprache eben nicht an den Dingen, die es schildert, vergreifen will und sich seine Sprache deshalb selten vom Beobachtungsinstrument zum Erkenntnisinstrument wandelt.
Gleichzeitig ist da auch ein Misstrauen in die Sprache; schon im Vorsatz werden Hugo von Hofmannsthal und Hans Henny Jahnn mit sprachkritischen Aussagen zitiert (wobei ich nicht umhin komme, mit ein wenig Ironie und Komik auf diese tristen Zitate zu reagieren, nicht nur weil der Chandos-Brief von Hofmannsthal erwiesenermaßen eher ein Zeugnis für und nicht wider die Poesie ist, sondern auch weil bei so vielen Hs in den Namen das Haha nicht weit ist).

Dieser Widerstand gegen die Sprache schwingt mit: die meisten Zeilen und Gedichten halten einen neutralen Ton, einen einfachen Duktus, der nicht nach größeren Formulierungen strebt; dann und wann wird aber auch dieser Widerstand elegant übersprungen.

„wandergesellen und müllerburschen
kommen vorbei vögel zwitschern
verständlich das tor zum garten steht
offen gern möchte man die roten die
weissen und grünen gladiolen besuchen
allein allein man hat keine zeit“

Verdichtungen, wie jene in dieser letzten Zeile, sind es, in denen die fast schon mystische Urwelt zur Gewissheit wird, zur verkleinerten, traurigen, aber nichtdestotrotz das Empfindsame betreffenden Gewissheit. Das sind die stärksten Momente des Bandes.

Die Urwelt ist der Quell vieler Geschichten, das unbewusste Grundgerüst des Erzählens, das hat Reinhard Kiefer gut erkannt und in diesem Buch ausgebreitet. Der Band ist im Ganzen kein großer Wurf, aber ein feiner Seismograph der kleinen Erschütterungen, die nachhallen – oder eben nicht nachhallen, obwohl wir uns noch an sie erinnern. Sogar davon erzählen. Aber haben wir denn noch eine Verbindung zur Urwelt, einen Raum für sie, einen anderen als jenen traurig-nostalgisch-verklärten, in dem wir stapeln, was uns längst aus den Händen gerissen wurde?

„ein leben in geschichten die
man las und immer wieder las
so dass man sie für wahr und
für die eigenen hielt“

„was wenn die kinderspiele
nicht mehr mass des lebens sind“

Vielleicht ist die Urwelt wie Gott, die romantische Liebe oder andere metaphysische Ahnungen, eine seltsame Kopfgeburt, die aus einem Wunsch, einer Sehnsucht nach Vervollkommnung der überall zu sehenden Leerstellen erwächst. Wäre sie dann weniger wahr, auch wenn sie nur eine Bühne ist, auf der wir diese Sehnsucht aufführen, wieder und wieder? Was ist denn keine Bühne für unsere Sehnsucht?

„wie schön wäre es wenn
sommerhäuser nur auf dem theater
verkauft und kirschgärten nur
dort abgehackt würden“

Reinhard Kiefer: die urwelt steht ihnen offen. Gedichte. Aachen (Rimbaud Verlag) 2017. 76 Seiten. 15,00 Euro.
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