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Rauni Magga Lukkari, Inger-Mari Aikio-Arianaick: Erbmütter Welttöchter

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Jan Kuhlbrodt

Rauni Magga Lukkari und Inger-Mari Aikio-Arianaick


Wer glaubt, die Welt sei grundlegend erschlossen und Entdeckungen ließen sich nur noch in der Tiefsee oder im Weltraum machen, oder im nanomikroskopisch Kleinen, wird immer wieder eines Besseren belehrt. Und er hat auch nicht mit den Verwerfungen gerechnet, die der sogenannte zivilisatorische Prozess angerichtet hat. Auch die Sprachwelt hält noch einige Überraschungen bereit, sogar im geografisch relativ Nahen.

Im Chemnitzer Eichenspinner Verlag ist in diesem Herbst ein außergewöhnlicher Gedichtband erschienen. Gedichte zweier Frauen aus zwei Generationen, ihre Namen sind Rauni Magga Lukkari und Inger-Mari Aikio-Arianaick. Bei diesem Buch handelt es sich um die erste Übertragung sámischer Dichtung ins Deutsche. Herausgegeben wurde es von Johanna Domokos. Übersetzt wurden die Gedichte von Christine Schlosser. Das Buch trägt den aufs erste Lesen hin gewöhnungsbedürftigen Titel Erbmütter Welttöchter.

Das Siedlungsgebiet der Sámen ist riesig und erstreckt sich über vier Staaten, Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, und es ist noch nicht so lange her, dass Sámisch in Finnland z.B. als Unterrichtsprache zugelassen wurde.

Die Geschichte der Sámen ist auch eine Geschichte eines innereuropäischen Kolonialismus. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an einen Vorspann des ostdeutschen Sandmännchens, dass mit einem Kofferfernseher fellgekleidete Rentierzüchter besuchte, und eines der Rentiere schaute von außen durchs Fenster keck dem Abendgruß des ostdeutschen Fernsehfunks zu. Auch war das Sandmännchen mit einem von Rentieren gezogenen Schlitten unterwegs. Sonst war bei den Lappen aus dieser Sicht alles in Ordnung. Der koloniale Name des Sámischen Siedlungsgebietes ist Lappland.

Nun also dieser Band mit zwei Gedichtzyklen Sámischer Dichterinnen, die beide um die Themen Liebe, Beziehung, Schwangerschaft, Mutterschaft kreisen.

Lukkari:

ich rupfe
du rupfst

wir zwei, ihr zwei, sie beide
wir ihr sie

gerupfte Vögel
fliegen nicht weit


Während Lukkari, die 1943 in Nordfinnland geboren wurde, das Thema noch in einem herkömmlichen Sinne poetisch angeht, entwickeln Aikio-Arianaicks Texte eine zuweilen wuchtige Unmittelbarkeit, verlieren alles herkömmlich Süßlich-Poetische, sind direkt und in einem gewissen Sinn auch unversöhnt.

gerade eingeschlafen

und schon
die Angst dass er aufwacht


Oder an anderer Stelle:

er holte mich
auf den Boden zurück

band mich an die Muttererde

ich springe nicht länger Fallschirm
steige nicht auf den Kilimandscharo

esse nicht länger Froschschenkel
geschweige denn
Wespenlarven


Aikio-Arianaick wurde 1961 ebenfalls in Nordfinnland geboren. Im Nachwort heißt es von ihr, sie sei nicht bereit, ihr Schreiben in den Dienst einer programmatischen Literaturauffassung zu stellen, sondern betrachte den Schreibakt als Strategie persönlicher Befreiung. Es ist ein Auflehnen gegen inneren und äußeren Kolonialismus, kann man sagen.

Beiden Dichterinnen gemeinsam ist Lakonie und Kürze. Zuweilen sind die Texte fast haikuhaft reduziert. Im Nachwort heißt es dazu, dass sie sich vom Joik beeinflusst zeigen, den „traditonellen Gesängen der Sámi, die bei schamanistischen Zeremonien, manchmal mit einer Schamanentrommel als Begleitung, erklangen, aber mehr als dreihundert Jahre lang unterdrückt wurden.“

Auch hier findet sich ein Bezug auf Kolonialismus, und faszinierend ist die Verbindung von kultureller Befreiung und Selbstbefreiung, die letztlich den Hintergrund dieses Bandes bildet.


Rauni Magga Lukkari, Inger-Mari Aikio-Arianaick: Erbmütter Welttöchter. Chemnitz (Eichenspinner Verlag) 2015. 212 Seiten. 16,80 Euro.

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