Raoul Eisele: einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt
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Birger Niehaus
Raoul Eisele: einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt. Berlin,
Tübingen (Schiler & Mücke) 2021. 112 Seiten. 16,00 Euro.
Raoul Eisele: einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt.
Überbordend
komponiert
Die Verdichtungswirkung der titelgebenden Schwarzen Löcher
wird im Klappentext von Raoul Eiseles zweitem Gedichtband einmal hatten wir
schwarze Löcher gezählt (2021) invers mit der Verdichtung der Poesie
verknüpft: „[Die Poesie] schafft in ihrer Knappheit neue Welten, lässt Lichter
entstehen, bildet Leuchttürme und schafft Platz und Orientierung – auch wenn
ihr eine ähnlich starke Anziehung zugeschrieben ist, entlässt sie einen jedoch
immer reicher wieder heraus.“
Knapp kann man Eiseles Lyrik nicht nennen. Auf gut hundert Seiten ohne Punkt entfaltet der 1991 geborene Dichter im Anklang an die Gravitationskraft der Schwarzen Löcher einen poetischen Sog, einen Strudel, der in langzeiligen Versen voranwirbelt und mit Alliterationen, Wiederholungen und den Fragmenten einer Erzählung den Leser einzusaugen versucht. Leider hat mich persönlich der Band nicht in seinen Bann gezogen.
Der Hauptgrund dafür ist sein allzu lyristischer Gestus. Beinahe alle Gedichte in einmal sind Du-Gedichte, viele Beziehungsgedichte (im weitesten Sinne des Wortes) an Felice, an R., an Céline, für A., für E., für M., für O., für MP., die mich in ihrer intimen Anspielungshaucherei („Amalfi / blinzelst in der Nacht als [sic] uns die Rufe der Wildtaube, die / Schafskälte in der Früh erreicht“) kaltlassen. Diese Briefigkeit trägt aber nur einen Teil zu meiner Verwahrung bei; erst zusammen mit dem bemüht lyrischen Sprachhabitus formt sie das nicht sehr vorteilhafte Bild eines georgeschen Ästhetizismus im Slammer-Gewand. Die Flut an poetischen Reizwörtern à la Nacht, Stern, Meer, Herz, Wange, Aster, Zypresse, Regen, Pore, Liebe, Wolken etc. im Verein mit gewagten Neologismen (schwalbend, hautverlaufend, wellengeboren, vollmondnächtens, trompetenblumend etc.) sind mir ohne sichtliche Ironiemarker schlicht zu viel des Guten.
Man wird einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt allerdings nicht gerecht mit diesem zugebenermaßen eher auf Idiosynkrasien beruhenden Verdikt. Denn erstens beruht es teilweise auf Idiosynkrasien. Selbst wenn man bspw. die Neologismen ablehnt, zeugen sie doch von Sprachfreude und Experimentierlust, über deren Gelingen oder Nichtgelingen andere anders urteilen mögen.
Zweitens verbirgt sich hinter der oben monierten „Anspielungshaucherei“ zumindest teilweise ein interessantes Konzept. Im Zyklus „Sieben Briefe“, der über das ganze Buch verstreut ist und sozusagen dessen Skelett bildet, wird nach und nach die Geschichte eines Seemanns erzählt. In sieben Briefen an seine „liebe, liebe O.“ (seine Frau?) wird enthüllt, dass sie nach dem ersten gemeinsamen Kind (M.) ein zweites (L.) erwartet, er an Land eilt, um dessen Geburt mitzuerleben, ihm das Kind aber fremd bleibt. Er flüchtet sich aufs Meer – und in die Sprache, die Lyrik. Insofern sollte man sich hüten, ganz naiv Eisele als Sprechinstanz der Gedichte in einmal zu setzen: M. und L. tauchen an mehreren Stellen außerhalb der „Sieben Briefe“ auf. Steckt also der Seemann (der desorientierte Lotse?) hinter den Gedichten? Wird hier eine Allegorie inszeniert („O.“ – das schwarze Loch im emotionalen Universum der Sprechinstanz)? Das Buch erschließt sich jedenfalls teilweise als fingierter Versuch, nach einem desorientierenden Erlebnis Orientierung in der Sprache zu finden. Das erklärt auch die überbordende Schifffahrtsmotivik sowie die vielen (briefartigen) Du-Gedichte: eine Poetik der (suchenden) Dialogizität wie in Celans Meridian-Rede.
Nur: Das alles macht den schwalbenden Duktus nicht wett. Aus einiger Entfernung kann ich das Konzept des Bandes würdigen. einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt verdient jedoch mehr: einen unbefangenen Blick, ein unbefangenes Ohr vor allem, das auch unmittelbare Freude an Eiseles Sprache empfinden kann, egal, auf welcher Ebene hinter dem Text er sich letztlich verborgen hält.