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Raoul Eisele: amnesia

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Raoul Eisele

amnesia


das Gedächtnis wäre uns zu nichts nütze,
wenn es unnachsichtig treu wäre.
– Paul Valéry

immer wenn ich dich besuchte, blieb ein Fleck, blieb
eine Stelle zurück, wie ausgebrochene Haut, wie Porzellan
wie bunte Scherben, wie Glück, dass ich dich mein ganzes
Leben kannte, deine Eigenheiten, deine Stimme, die Augen
und alles dahinter ein Weltall, ein Kosmos, Planeten, die
in deiner Umlaufbahn trieben und ich kannte sie alle, konnte
sie nennen wie Denkmäler wie Einschlagstellen, die Krater
der Meteoriten, die dunklen Flecken wie Lavagestein, deine
Mondmeere und es wuchern Geschichten, wuchern wie wild
aus meinem Mund ungestutzt und sieben Jahre danach
diese Orte wie Dörfer nahe der Heimat mit Wäldern
und Wasser, umgeben von Bergen, die sich kaum aus den
Böden wagten, Hügel wie Erdhaufen verschüttet und die
Tiefe wie dichte Entfremdung der Selbstverständlichkeit
sprunghaft, wie leer, wie frei

und ich versuch die Erinnerungen zu greifen, versuche
der Leerstelle zu entgehen, den Vertiefungen, der Depression
des Festlands, angefüllt mit Wasser, tiefblaues Saphir und
tauche, strampele tiefer mit Flossen, wie Schwärme
umschwimmend, wie wabernd dein Verstand
wie wiederkehrende Welten, dieser dichte Wald am
Meeresgrund, wo man vor lauter Bäumen nichts mehr sieht
nicht einmal den Wald, allein die Sterne, keine Lichtung nur
spiegelnde Buchten, ein Meer und die Selbstgespräche der
Wellen im Wind, welche die Ebbe reißt, welche sie bleicht


In Raoul Eisele: einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt. Berlin, Tübingen (Schiler & Mücke) 2021. 112 Seiten. 16,00 Euro.
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