Raja Lubinetzki: Der barfußne Tag
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Jan Kuhlbrodt
Raja Lubinetzki: Der barfußne Tag. Berlin (Distillery
Verlag) 2019. 24 Seiten. 7,00 Euro.
Zu Raja Lubinetzki
Zwischen Winden und Ozonereimt der Ahn Widerstand.Sein Aufenthalt stößt Sinne,verkleidete Distanzen.
Es sind die kleinen Produktionen, die es zuweilen in sich
haben, obwohl in ihrem Inneren gar nicht so viel Platz ist, die aber auf
wenigen Seiten einen weiten Raum öffnen. Wenn ich zum Sammeln veranlagt wäre,
würde ich wohl solche Produktionen sammeln. Heftchen mit Lyrik oder Prosa,
unter 30 Seiten meist. Geklammert und nicht gebunden. Denn das unterscheidet
sie vom Buch, das in der abendländischen Überlieferung seit Gutenberg das Non
Plus Ultra darstellt. Und es sind natürlich nicht die großen Publikumsverlage,
die derartiges produzieren, es sei denn hin und wieder mal als Werbematerial,
als Publikation also, die auf eine andere größere gewichtigere Publikation
hinweist, ihr den Weg ebnen soll.
Aber, und das ist wohl der Grund, warum ich solche Hefte
liebe, zuweilen bringen jene kleinen Unternehmen wie die parasitenpresse,
der hochroth Verlag und im vorliegendem Fall der Verlag Distillery
Kunstwerke heraus, die sich mit denen größerer Verlage nicht nur messen können,
sondern die eben die Innovationskraft
generieren, von der letztlich der ganze Betrieb lebt und abhängt, will er nicht
im eignen Saft ersaufen.
Der Berliner Verlag Distillery versorgt nun schon
seit langer Zeit die lesende Gemeinde mit derart innovativen Produktionen,
gestalterisch gelingt ihm dabei der Spagat zwischen Underground und hoch
Artifiziellem. Und zugleich erweist sich der Verlag auch als Chronist
vergangener und aber auch uneingelöster Kunstversprechen. Denn die Zeit
verfährt mit jenen, die ihr unterliegen, nicht gerecht. Über dauerhafte
Bedeutsamkeit und Vergessenwerden entscheidet nicht selten der Zufall und der
Verwertungsprozess. Dem kann man sich entgegenstemmen und gewissermaßen
archäologisch operieren und an den Tag bringen, was zu Unrecht verschüttet
liegt.
„Der barfußne Tag“ ist ein Heft mit Gedichten und
Zeichnungen der Künstlerin Raja Lubinetzki. Sie wurde 1962 in Sachsen Anhalt
geboren; ihr Vater war ein Student aus Kamerun, was, wenn ich mich an die Zeit
der spießigen DDR erinnere, allein übergroßen Konfliktstoff barg. Lubinetzki
wurde zur Schriftsetzerin ausgebildet und studierte in den Achtzigerjahren an
der Kunsthochschule Berlin Weißensee. 1987 verließ sie die DDR. Soweit
vielleicht einige biografische Eckdaten.
Auf dem Mittelblatt des Heftes befindet sich die
Reproduktion einer Zeichnung der Künstlerin, auf der eine Mauer zu sehen ist,
in einem Zustand gesteigerten Zerfalls. Wahrscheinlich war sie einmal verputzt,
aber auf dem Zerbröselten werden uneinheitlich Klinker sichtbar, und der
Restputz ist in großen Strukturen überzeichnet. Die Zeichnung legt in groben
Zügen sich selbst als Überzeichnung frei. Am Anfang des Heftes findet sich ein
Gedicht, in dem es heißt:
Noch immer gehen wir in den Haussockender Mütter und Väter spazieren.
Als gäbe es aus der Geschichte kein Entrinnen. Nicht aus der
globalen, kolonialen, die man zuweilen Weltgeschichte nennt, aber auch nicht
aus der, die jeder Einzelnen, jedem Einzelnen konkret widerfährt. Als wäre der
Ausgang aus der Bedrohung, die Geschichte auch ist, nur als Rückbau möglich,
das Freilegen des ursprünglichen Gebäudes, Schicht für Schicht. In diesen
Schichten finden sich eben auch die sprachlichen Segmente in ihren lokalen
Eigenarten als Slang. Und so baut Lubinetzki in die Texte zuweilen
grammatikalische Regionalismen ein. Wurfhaken, wenn man so will:
Das Trauma gehört der stillen Vereinbarung, Trennung seizu ignorieren, an und trägt den doppelsinnigen Charakterwie Schmerz und Wille, Lust und Lässigkeitin Töne der Kindheit zurück zu verwandeln.