Rainer Maria Rilke: Über Kunst
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Rainer Maria Rilke
Über Kunst
(1898)
I
Graf Lew
Tolstoj hat in seinem letzten vielumfragten Buche ›Was ist Kunst?‹ seiner
eigenen Antwort eine lange Reihe von Definitionen aus allen Zeiten
vorangestellt. Und von Baumgarten bis Helmholtz, Shaftesbury bis Knight, Cousin
bis Sar Peladan ist Raum genug für Extreme und Widersprüche.
Allen diesen
Meinungen von Kunst, derjenigen Tolstojs mit eingeschlossen, ist aber eines
gemeinsam: es wird nicht so sehr das Wesen der Kunst betrachtet, vielmehr sind
alle bemüht, sie aus ihren Wirkungen zu erklären.
Es ist, als
ob man sagte: Die Sonne ist das, welches Früchte reift, Wiesen wärmt und Wäsche
trocknet. Man vergißt, daß dieses letztere jeder Ofen vermag.
Wenngleich
wir Modernen am weitesten entfernt sind von der Möglichkeit, anderen oder auch
nur uns selbst durch Definitionen zu helfen, haben wir doch vielleicht vor den
Gelehrten die Unbefangenheit und Aufrichtigkeit und eine leise Erinnerung aus
Schaffensstunden voraus, welche unseren Worten in Wärme ersetzt, was ihnen an
historischer Würde und Gewissenhaftigkeit fehlt. Die Kunst stellt sich dar als
eine Lebensauffassung wie etwa die Religion und die Wissenschaft und der
Sozialismus auch. Sie unterscheidet sich von den anderen Auffassungen nur dadurch,
daß sie nicht aus der Zeit resultiert und gleichsam als die Weltanschauung des
letzten Zieles erscheint. In einer graphischen Darstellung, bei welcher die
einzelnen Lebensmeinungen als Linien in die ebene Zukunft fortgeführt würden,
wäre sie die längste Linie, vielleicht das Stück einer Kreisperipherie, das
sich als Gerade darstellt, weil der Radius unendlich ist.
Wenn ihr
einmal die Welt unter den Füßen zerbricht, bleibt sie als das Schöpferische
unabhängig bestehen und ist die sinnende Möglichkeit neuer Welten und Zeiten.
Deshalb ist
auch der, welcher sie zu seiner Lebensanschauung macht, der
Künstler, der Mensch des letzten Zieles, der jung durch die Jahrhunderte geht,
mit keiner Vergangenheit hinter sich. Die anderen kommen und gehen, er dauert.
Die anderen haben Gott hinter sich wie eine Erinnerung. Dem Schaffenden ist
Gott die letzte, tiefste Erfüllung. Und wenn die Frommen sagen: »Er ist«, und
die Traurigen fühlen: »Er war«, so lächelt der Künstler: »Er wird sein«. Und
sein Glauben ist mehr als Glauben; denn er selbst baut an diesem Gott. Mit
jedem Schauen, mit jedem Erkennen, in jeder seiner leisen Freuden fügt er ihm
eine Macht und einen Namen zu, damit der Gott endlich in einem späten Urenkel
sich vollende, mit allen Mächten und allen Namen geschmückt.
Das ist die
Pflicht des Künstlers.
Weil er sie
aber als Einsamer mitten im Heute wirkt, so stoßen seine Hände da und dort an
die Zeit. Nicht, daß sie das Feindliche wäre. Aber sie ist das Zögernde,
Zweifelnde, Mißtrauische. Sie ist der Widerstand. Und erst aus diesem Zwiespalt
zwischen der gegenwärtigen Strömung und der zeitfremden Lebensmeinung des
Künstlers entsteht eine Reihe kleiner Befreiungen, wird des Künstlers sichtbare
Tat: das Kunstwerk. Nicht aus seiner naiven Neigung heraus. Es ist immer eine
Antwort auf ein Heute.
Das
Kunstwerk möchte man also erklären: als ein tief inneres Geständnis, das unter
dem Vorwand einer Erinnerung, einer Erfahrung oder eines Ereignisses sich
ausgiebt und, losgelöst von seinem Urheber, allein bestehen kann.
Diese
Selbständigkeit des Kunstwerkes ist die Schönheit. Mit jedem Kunstwerke kommt
ein Neues, ein Ding mehr in die Welt.
Man wird
finden, daß in dieser Definition alles Raum hat: von den gotischen Domen des
Jehan de Beauce bis zu einem Möbel des jungen van der Velde. –
Die
Kunsterklärungen, welche die Wirkung zur Grundlage nehmen, umfassen viel
mehr. Sie müssen in ihren Konsequenzen auch notwendig den Fehler begehen, statt
von der Schönheit vom Geschmack, das heißt statt von Gott vom Gebete zu reden.
Und so werden sie ungläubig und verwirren sich immer mehr.
Wir müssen
es aussprechen, daß das Wesen der Schönheit nicht im Wirken
liegt, sondern im Sein. Es müßten sonst Blumenausstellungen und Parkanlagen
schöner sein als ein wilder Garten, der vor sich hinblüht irgendwo und von dem
keiner weiß.
II
Wenn ich die
Kunst als eine Lebensanschauung bezeichne, meine ich damit nichts Ersonnenes.
Lebensanschauung will hier aufgefaßt sein in dem Sinne: Art zu sein. Also kein
Sich-Beherrschen und -Beschränken um bestimmter Zwecke willen, sondern ein
sorgloses Sich-Loslassen, im Vertrauen auf ein sicheres Ziel. Keine Vorsicht,
sondern eine weise Blindheit, die ohne Furcht einem geliebten Führer folgt.
Kein Erwerben eines stillen, langsam wachsenden Besitzes, sondern ein fortwährendes
Vergeuden aller wandelbaren Werte. Man erkennt: diese Art zu sein hat etwas
Naives und Unwillkürliches und ähnelt jener Zeit des Unbewußten an, deren
bestes Merkmal ein freudiges Vertrauen ist: der Kindheit. Die Kindheit ist das
Reich der großen Gerechtigkeit und der tiefen Liebe. Kein Ding ist wichtiger
als ein anderes in den Händen des Kindes. Es spielt mit einer goldenen Brosche
oder mit einer weißen Wiesenblume. Es wird in der Ermüdung beide gleich achtlos
fallen lassen und vergessen, wie beide ihm gleich glänzend schienen in dem
Lichte seiner Freude. Es hat nicht die Angst des Verlustes. Die Welt ist ihm
noch die schöne Schale, darin nichts verlorengeht. Und es empfindet als sein
Eigentum alles, was es einmal gesehen, gefühlt oder gehört hat. Alles, was ihm
einmal begegnet ist. Es zwingt die Dinge nicht, sich anzusiedeln. Eine Schar
dunkler Nomaden wandern sie durch seine heiligen Hände wie durch ein
Triumphtor. Werden eine Weile licht in seiner Liebe und verdämmern wieder
dahinter; aber sie müssen alle durch diese Liebe durch. Und was einmal in der
Liebe aufleuchtete, das bleibt darin im Bilde und läßt sich nie mehr verlieren.
Und das Bild ist Besitz. Darum sind Kinder so reich.
Ihr Reichtum
ist freilich rohes Gold, nicht übliche Münze. Und er scheint immer mehr an Wert
einzubüßen, je mehr Macht die Erziehung gewinnt, die die ersten unwillkürlichen
und ganz individuellen Eindrücke durch überkommene und historisch
entwickelte Begriffe ersetzt und die Dinge, der Tradition gemäß, zu wertvollen
und unbedeutenden, erstrebenswerten und gleichgiltigen stempelt. Das ist die
Zeit der Entscheidung. Entweder es bleibt jene Fülle der Bilder unberührt
hinter dem Eindrängen der neuen Erkenntnisse, oder die alte Liebe versinkt wie
eine sterbende Stadt in dem Aschenregen dieser unerwarteten Vulkane. Entweder
das Neue wird der Wall, der ein Stück Kindsein umschirmt, oder es wird die
Flut, die es rücksichtslos vernichtet. Das heißt, das Kind wird entweder älter
und verständiger im bürgerlichen Sinn, als Keim eines brauchbaren
Staatsbürgers, es tritt in den Orden seiner Zeit ein und empfängt ihre
Weihen, oder es reift einfach ruhig weiter von tief innen, aus seinem eigensten
Kindsein heraus, und das bedeutet, es wird Mensch im Geiste aller
Zeiten: Künstler.
In diesen
Tiefen und nicht in den Tagen und Erfahrungen der Schule verbreiten sich die
Wurzeln des wahren Künstlertums. Sie wohnen in dieser wärmeren Erde, in der nie
gestörten Stille dunkler Entwicklungen, die nichts wissen von dem Maß der Zeit.
Möglich, daß andere Stämme, die aus der Erziehung, aus dem kühleren, von den
Veränderungen der Oberfläche beeinflußten Boden ihre Kräfte heben, höher in den
Himmel wachsen als so ein tiefgründiger Künstlerbaum. Dieser streckt nicht
seine vergänglichen Äste, durch welche die Herbste und Frühlinge ziehen, zu
Gott, dem Ewigfremden, hin; er breitet ruhig seine Wurzeln aus, und sie
umrahmen den Gott, der hinter den Dingen ist, dort, wo es ganz warm und dunkel
wird.
Darum, weil
die Künstler viel weiter in die Wärme alles Werdens hinabreichen, steigen andere
Säfte in ihnen zu den Früchten auf. Sie sind der weitere Kreislauf, in dessen
Bahn immer neue Wesen sich einfügen. Sie sind die einzigen, die Geständnisse
tun können, wo die anderen verhüllte Fragen haben. Niemand kann die Grenzen
ihres Seins erkennen.
Den
unmeßbaren Brunnen möchte man sie vergleichen. Da stehen die Zeiten an ihrem
Rand und werfen ihr Urteil und Wissen wie Steine in die unerforschte Tiefe und
lauschen. Die Steine fallen immer noch seit Jahrtausenden. Keine Zeit hat noch
den Grund gehört.
III
Die
Geschichte ist das Verzeichnis der Zufrühgekommenen. Da wacht immer wieder
einer in der Menge auf, der in ihr keine Ursache hat und dessen Erscheinen sich
in breiteren Gesetzen begründet. Er bringt fremde Gebräuche mit und fordert
Raum für unbescheidene Gebärden. So wächst eine Gewaltsamkeit aus ihm und ein
Wille, der über Furcht und Ehrfurcht wie über Steine schreitet. Rücksichtslos
redet Zukünftiges durch ihn; und seine Zeit weiß nicht, wie sie ihn werten
soll, und in diesem Zögern versäumt sie ihn. Er geht an ihrer
Unentschlossenheit zugrunde. Er stirbt wie ein verlassener Feldherr oder wie
ein voreiliger Frühlingstag, dessen Drängen die träge Erde nicht begreift. Aber
Jahrhunderte später, wenn man seine Standbilder schon nicht mehr bekränzt und
sein Grab vergessen ist und irgendwo grünt, – dann wacht er wieder auf und geht
näher und als Zeitgenosse durch den Geist seiner Enkel.
So haben wir
schon viele wiedererlebt; Fürsten und Philosophen, Kanzler und Könige, Mütter
und Märtyrer, denen ihre Zeit Wahn und Widerstand war, leben leiser neben uns
und reichen uns lächelnd ihre alten Gedanken, die nun keinem mehr laut und
lästerlich sind. Sie gehen neben uns zu Ende, beschließen müde ihre Unsterblichkeit,
setzen uns zu Erben ihres Ewigen ein und haben den täglichen Tod. Dann haben
ihre Denkmäler keine Seele mehr, ihre Historie ist überflüssig geworden, weil
wir ihr Wesen wie ein eigenes Erlebnis besitzen. So sind die Vergangenheiten
wie Gerüste, die zusammenbrechen vor dem fertigen Bau; aber wir wissen, daß
jede Vollendung wieder Gerüst wird und daß, von hundert Stürzen verhüllt, das
letzte Gebäude ersteht, das Turm und Tempel sein wird und Haus und Heimat.
Einst, wenn
dieses Monument sich bekrönt, wird die Reihe an die Künstler kommen –
Zeitgenossen jener Vollender zu sein. Denn sie sind als die Allerzukünftigsten
durch die Tage gegangen, und wir haben noch nicht den Geringsten von ihnen wie
einen Bruder erkannt. Sie kommen uns vielleicht mit ihrer Gesinnung nah, sie
rühren uns mit irgendeinem Werke an, sie neigen sich uns, und wir begreifen
einen Blitz lang ihr Bild; – allein wir können sie im Heut nicht leben und
nicht sterben denken. Und eher werden uns die Hände mächtig,
Berge und Bäume zu heben, als einem von diesen Toten die Augen zu schließen,
die schauenden.
Und selbst
die Schaffenden unserer Zeit können jene Großen, deren Heimat erst sein wird,
nicht zu Gaste laden; denn sie sind selber nicht zu Hause und sind Wartende und
einsame Künftige und ungeduldige Einsame. Und ihr geflügeltes Herz stößt
überall an die Mauern der Zeit. Und wenn sie gleich Weise sind, die ihre Zelle
liebgewinnen und das Stückchen Himmel, das in ihrem Fenstergitter wie im Netz
gefangen liegt und die eine Schwalbe, die ihr Nest, Vertrauens voll, über ihre
Traurigkeit gehängt hat, – so sind sie doch auch Sehnsüchtige, die nicht immer
bei gefalteten Tüchern und gehäuften Truhen warten wollen. Oft drängt es sie,
die Gewebe auszubreiten, daß die unterbrochenen Bilder und Farben, die der
Weber ersann, Sinn erhielten vor ihren Blicken und Zusammenhang und sie wollen
Gefäße und Gold, das ihnen die Laden füllt, aus dem dunklen Besitzen heben in
den klaren Gebrauch.
Aber sie
sind Zufrühgekommene. Und was sich ihnen nicht löst im Leben, das wird ihr
Werk. Und sie stellen es brüderlich neben die dauernden Dinge, und die Trauer
des Nichterlebten ist die geheimnisvolle Schönheit über ihm. Und diese
Schönheit weiht ihnen Söhne und Erben. Und so hält sich, am Schaffen entlang,
ein Geschlecht Nochnichtlebender und harrt seiner Zeit.
Und der
Künstler ist immer noch dieser: ein Tänzer, dessen Bewegung sich bricht an dem
Zwang seiner Zelle. Was in seinen Schritten und dem beschränkten Schwung seiner
Arme nicht Raum hat, kommt in der Ermattung von seinen Lippen, oder er muß die
noch ungelebten Linien seines Leibes mit wunden Fingern in die Wände ritzen.