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Rahel Levin Varnhagen: Tagebücher und Aufzeichnungen

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Jan Kuhlbrodt

Zu Rahel Levin-Varnhagen: Tagebücher und Aufzeichnungen


Wenn es eine Rubrik meiner Lieblingsbücher gäbe, nähme dieses Buch einen der ersten Plätze ein.

Seit Kindheit an hatte ich eine Furcht vor Uhren, und vor Waßer in Teichen, und Gefäßen als Tonnen oder Fäßer; …
Das fiel mir Heute ein, daß eine Uhr der erste Anfang von Organisation ist. Witziger Gebrauch von Kräften. Die wir so nennen, weil wir sie nicht kennen.

Dieser Eintrag findet sich auf Seite 244 des Buches. Vielleicht wird hier schon einiges sichtbar von der beweglichen Eleganz der Rahel Levin Varnhagen, die später Hanna Arendt so sehr beeindruckt hatte, dass sie ihr eine Dissertation widmete, dieses Denken einer jüdischen Frau zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, der aufgrund ihres Geschlechts der Zugang zu einer Schriftstellerinnenkarriere verstellt war. Ihre intellektuelle Leidenschaft, ihr verwegener und freier Verstand mussten sich also andere Wege suchen, um sich zum Ausdruck zu bringen, und vielleicht scheint dieses Denken, so wie es sich in diesen Aufzeichnungen findet, umso freier und beweglicher.
    Darüber hinaus ist es auch noch nicht in das Korsett einer normierten Rechtschreibung gepresst. Und der Herausgeberin ist es zu danken, dass auch diese Ausgabe darauf verzichtet, den Text anzupassen.

Auf Seite 251 findet sich folgender Eintrag, den man dem Ganzen vielleicht voransetzen kann:

Vernunft weiß nur, daß sie Vernunft ist, wenn sie bis zum Herzenswunsch zum letzten Wollen hinführen kann; und so ist Zusammenhang da für ein Meer von Daseyn, vor und hinter uns; und nicht kommt es auf unser schwankendes unglücksseeliges Schiff an; … Für die beßten ist das Ellement nur Trost, und Leitung, in der harten schmeichlenden unbesiegten Fahrt. … Alles ist Zwang; Zwang zur höchsten Freyheit, und Zustimmung.

Zum ersten Mal sind die Tagebücher und Aufzeichnungen Rahel Levin Varnhagens vollständig erschienen. Dieses Buch ist ein großartiges Dokument eines Denkens, das in vielerlei Hinsicht grenzüberschreitend ist, das zwischen den Genres springt und zwischen den Sprachen, dem zu folgen man zuweilen schon eine gründliche Edition benötigt und einen umfangreichen Apparat. Beides liefert dieser Band, gründlich ediert und herausgegeben von Ursula Isselstein.

Fast ein historischer Roman ist dabei die Editionsgeschichte selber, die die Herausgeberin im Nachwort beschreibt. Lange Zeit galten Levin-Varnhagens Aufzeichnungen, also die Hand-schriften und Manuskripte, als verschollen.

Seit Ende der siebziger Jahre die Varnhagen-Sammlung in Krakau wiederentdeckt wurde, finden sich Rahel-Editoren in einer scheinbar idealen Lage: eine wohlgeordnete, gut betreute und für die Forschung zugängliche Sammlung ohne wesentliche Kriegsverluste.

Dennoch sollte eine ganze Zeit vergehen, bis jetzt die Aufzeichnungen in dieser Form erschienen sind, also ohne, dass Freunde oder Editoren eine Auswahl treffen und diese Gedanken und Notizen in zweiter Hand ordnen.

Denn dort (in vorherigen Editionen JK) sind die den Tagebüchern entnommenen, meist aphoristischen, reflexiven oder kritischen Texte mit den Briefen, und von diesen fast erdrückt, zu einem neuen 'autobiografischen Text' verschmolzen; umgekehrt haben sich einige Aphorismen und Reflexionen als Brieftexte entpuppt.

In dieser Ausgabe liegen die Aufzeichnungen und Gedanken nun gewissermaßen roh vor, und es zeichnen sich Reflexionen ab, aber auch kurze Geschichten und Dramen, z.B. angesichts eines Briefentwurfes an den Vater eines jungen Mannes, den Rahel, um dessen Not zu lindern, Geld geliehen hatte, obwohl sie selbst Not litt. Der Vater, wohlhabend, schien von der Transaktion seines Sohnes nichts wissen zu dürfen, so dass der Brief zwischen Wut und Verlegenheit schwankt. Aber das ist nur eine eher randständige Geschichte.


Rahel Levin Varnhagen: Tagebücher und Aufzeichnungen. Hrsg. von Ursula Isselstein. Göttingen (Wallstein Verlag) 2019. 1064 Seiten. 98,00 Euro.
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