Ragnheiður Harpa Leifsdóttir: Die Spur und andere Gedichte
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Ragnheiður Harpa Leifsdóttir
Die Spur und andere Gedichte
(Aus: Ég er það sem ég sef eftir Svikaskáld / Ich bin, was ich schlafe
von Betrügerische Dichterinnen, Mál og menning, Reykjavik 2024)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
DIE SPUR
verliebt zu sein ist ein Zielscheibenspiel
auf einem alten Rummelplatz in Andalusien
die Schrauben des Riesenrads sind locker
es dreht sich dennoch weiter voller Menschen
mit geweiteten Pupillen
und Staubgeschmack im Mund
meine Jugend war ein Rasseln von Schlüsseln in übergroßen
Taschen
nun höre ich die Geräusche wieder
inmitten blinkender Spielautomaten und knallrosafarbener
Zuckerwatte
Neonlichter ersetzen die Sonne in der warmen Nacht
ich folge ihren Spuren wie ein Singschwan
der ziellos gen Süden fliegt
EIN SEEIGEL
Im Wald, so hat man dir
gesagt, könntest du einem Bären begegnen. Man hat dir gesagt, du solltest
Augenkontakt vermeiden, dich langsam bewegen, mit sanfter Stimme sprechen. Dich
totstellen. Aber nach einem langen Marsch durch den dunklen Wald, ohne auch nur
einem einzigen Lebewesen zu begegnen, siehst du einen himmelblauen Seeigel auf
einem eiszeitlichen Felsen. Die Angst beherrscht alles. Du läufst schreiend davon.
Unter schmutzigen Turnschuhen zerschellt das Schalentier. Plötzlich zeigt sich dein Spiegelbild in
einer klaren Pfütze: Dunkelbraune, sperrangelweit geöffnete Augen. Gelbe Zähne.
Schnurrhaare, pechschwarz.
FLECHTEN
nachts
träume ich, dass mir im Mund die Zähne bröckeln
sie
fallen heraus, sobald ich den Mund aufmache
die
Spitzen sind nach jahrzehntelangem nächtlichem Knirschen abgenutzt
die
Risse tief wie die Klüfte des Blaubergs
tagsüber
unterdrücke ich im Zahnfleisch den Schmerz
er
flicht sich zusammen mit milchweißer Wildnis
Schauder
von Glück, Schuldgefühl und
meiner
Tochter, die versucht einen Sonnenglimmer
zu
fangen wie eine Großlibelle
ich
hülle uns in weiches Graumoos ein
weiß,
dass Moos die Herrschaft der Mutter ist
die
stärkste und empfindlichste aller Planzen
weiß, wenn das Land zerfallen ist
werden die Flechten die Wunden heilen
Ragnheiður Harpa Leifsdóttir, geb. 1988, ist Dichterin, Autorin
und Künstlerin. Ihre
multidisziplinäre Praxis umfasst die Bereiche Performance, bildende Kunst und
Schreiben.
2019 wurde ihr Gedichtband Sítrónur og náttmyrkur / Zitronen und eine dunkle
Nacht veröffentlicht, zuvor war sie bereits u.a. Mit-Autorin von
Gedichtbänden des Schriftstel-lerinnen-Kollektivs
Svikaskáld / Betrügerische Dichterinnen, in deren neuesten Veröffent-lichung, Ég
er það sem ég sef / Ich bin, was ich
schlafe, sie ebenfalls vertreten ist. Ragnheiður
Harpa Leifsdóttir hat einen Abschluss in Kreativem Schreiben und Performance
Making und wurde für den isländischen Performing Arts Award nominiert. Ihre Arbeiten wurden in der Türkei
veröffentlicht und in Reykjavík sowie auf verschiedenen Festivals in ganz
Europa aufgeführt.
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