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Ragnar Helgi Ólafsson: Seit damals

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Foto: Art Bicnick
Ragnar Helgi Ólafsson

SEIT DAMALS
(Aus: Ljóðbréf 8 / Poesiebrief 8, hrsg. v. Dagur Hjartarson und Ragnar Helgi Ólafsson, Verlag Tunglið, Reykjavík 2024)
 
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


SEIT DAMALS
(Noch einmal über die Zeit und das Wasser*
oder: Die unerwartete Rückkehr metaphysischer Poesie)

Damals gab es kein damals –
als wir in unserem Glockenteich herumplanschten.
Lauwarm, seine Grenzen höchst unklar.
Und keine Himmelsrichtung unvermeidlich.

Ein Mann des Fortschritts erscheint.
Möchte „neue“ Ideen verkaufen.
Gelangweilt von Herumlungerei.

Und plötzlich führte eins zum anderen.
Er planschte nicht herum, dieser Kerl.
Sondern verschwand unter der Oberfläche, hinunter zum Grund.
Kam wieder hoch mit einem blauen Strick aus Pferdehaaren.
Sagte: „Der ist nicht endlos lang.“

Als Nächstes grub er einen Graben.
Entwässerte den Teich.
Bestellte rosafarbene Felder.

Seit damals gibt es seit damals.
Seit damals ist es so geblieben.


*Anspielung auf den berühmten Poesie-Zyklus Die Zeit und das Wasser von Steinn Steinarr, erschienen 1948. Steinn Steinarr lebte von 1908 bis 1958 und war ein glühender Vertreter der sogenannten Atomdichter, einer Gruppe von im Kern fünf Lyrikern, die nach dem 2. Weltkrieg mit der traditionellen, an feste Form- und Reimschemata gebundenen isländischen Poesie brachen und diese an die internationale Moderne heran-führten.


Ragnar Helgi Ólafsson wurde 1971 in Reykjavík / Island geboren; er ist ein bekannter Schriftsteller seines Landes und zugleich als Bildender Künstler, Verleger, Musiker, Grafiker usw. tätig. Bereits für seinen ersten Gedichtband, Til hughreystingar þeim sem finna sig ekki í samtíma sínum / Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können (2015/ ELIF Verlag 2017) wurde er mit dem Tómas-Guðmundsson-Poesie-Preis ausgezeichnet; für seine Story-Sammlung Handbók um minni og gleymsku / Handbuch des Erinnerns und Vergessens (2017/ ELIF Verlag 2020) war er für den Isländischen Literaturpreis in der Kategorie Belletristik nominiert. Das im Herbst 2025 im mikrotext erscheinende Werk Bókasafn föður míns / Die Bibliothek meines Vaters, im Original 2018 publiziert, erfuhr eine solche Nominierung in der Kategorie Sachbuch. Seine derzeit letzte lyrische Arbeit, die Gedichtsammlung Laus blöð / Lose Blätter (2021 / ELIF Verlag 2023), erhielt eine Nomi-nierung für den Nordischen Literaturpreis 2023. Ragnar Helgi Ólafsson lebt und arbeitet in Reykjavík.

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