Ragnar Helgi Ólafsson: Lose Blätter
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Elke Engelhardt
Ragnar Helgi Ólafsson: Lose Blätter. Isländisch, deutsch. Übersetzt von Jon Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Nettetal (ELIF Verlag) 2023. 304 Seiten. 26,00 Euro.
Die dritte Übersetzungsarbeit eines Werks von Ragnar Helgi Ólafsson hat das gut eingespielte Team aus Wolfgang Schiffer und Jón Thor Gíslason bereits im letzten Herbst im Elif Verlag vorgelegt. Das kleine Kunstwerk trägt den zugleich schlichten und passenden Titel „Lose Blätter“.
Ólafsson, der in Reykjavik lebt und arbeitet, macht Filme und Musik, er arbeitet als Grafik-designer und schreibt neben Gedichten, Romane, Theaterstücke und Sachbücher.
Die Geschichte, wie der neue Gedichtband „Lose Blätter“ entstanden ist, geht so: Alle Welt wartet und wartet sehnsüchtig auf einen neuen Gedichtband von Ragnar Helgi Ólafsson. So dass sein isländischer Lektor schließlich Kontakt mit Wolfgang Schiffer aufnimmt und ihn bittet, er solle Ólafsson ermutigen, einen neuen Gedichtband zu schreiben. Dies war der erste Schritt zu den losen Blättern. Denn weiter geht die Geschichte so: Ólafsson sichtet seine Papiere, immerhin 600 Seiten Poesie. Er plant mit einer Auswahl aus diesem Bestand, ein hervorragendes Buch zu machen. Also liest er die ersten 100 Seiten. Und ist enttäuscht. Langweilig und leblos kommt ihm das Geschriebene vor. Aber statt aufzugeben entscheidet er sich, die Seiten wie bei einem Kartenspiel zu mischen, und dann fast zufällig 150 Seiten auszuwählen. Damit diese Auswahl nicht verloren geht, werden die losen Blätter zu einem Buch gebunden. Während dieses Vorgangs wurde ihm bewusst, so Ólafsson in einem Gespräch mit Wolfgang Schiffer, dass er „die Nacktheit“ des einzelnen Gedichtes liebe. Jedes der Gedichte sollte für sich stehen, als loses Blatt in einem zufällig gebundenen Buch.
So
erklärt sich der schlichte Titel seines neuesten Gedichtbandes u.a. damit, dass
Ólafsson seine Texte als eigenständige Kunstwerke betrachtet. Jedes Exemplar
von „Lose Blätter“ hat ein Lesezeichen, das eine individuelle Lesereihenfolge
der Gedichte vorschlägt. Er wolle keine Kontrolle auf den Leser, die Leserin
ausüben, sagt Ólafsson. Die Strukturierung der Gedichte in einer bestimmten
Reihenfolge beeinflusse jedoch, wie die Leser:innen die Gedichte
interpretieren. Ólafsson, der das Buch selbst gestaltet hat, sagt, der Titel
habe sich während der Arbeit ganz von selbst ergeben. Für dieses Buch konnte es
keinen anderen Titel geben. Für ihn ist die Poesie ein Schmetterling. Ebenso
flüchtig wie dieses schöne Insekt. Wenn man die Poesie also nicht mit der Realität
verbinde, fliege sie davon und nichts bleibe zurück.
Der
Vorschlag einer je individuellen Lesereihenfolge, der jedes Buch zu einem
unvergleichlichen und einzigartigen Kunstwerk macht, ist mehr als ein
origineller Einfall. Denn egal in welcher Reihenfolge man die Gedichte liest,
sie weben ein Netz, eine Decke, die warm hält. Die je einzigartigen Webmuster,
helfen uns, erkennen zu lassen, wie verbunden und einmalig zugleich wir als
Menschen, als Leserinnen und Leser, sind.
Die
Gedichte selbst befinden sich, folgt man der vorgeschlagenen Lesereihenfolge,
in immer anderen Möglichkeitsräumen, in denen sie sich verbinden und
miteinander kommunizieren können. Man kann das durchaus als eine Einladung zum
Gespräch betrachten, bei dem der Band selbst als Vorbild fungiert. Denn in
diesem Buch treten Mini-Epen mit Aphorismen in einen Austausch, absurde
Gedankenspiele treffen auf genaue Beobachtung, und Antworten münden immer
wieder in Fragen.
Die
Gedichte öffnen Vorhänge und zeigen in den Spiegel, sie enthüllen das
„Kraftwerk der Lebenspoesie“, und vielleicht sind all die Gedichte getragen von
der Überzeugung
„[…] die Kunst des Gedichts ist keine
Kunstform
Die Kunst des Gedichts ist Lebensform.“
Eine
umwerfende Zärtlichkeit wohnt nahezu allen Gedichten inne. Verse, die
unablässig versuchen, ihre Leser:innen zu verunsichern, um den Blick hinter die
nur scheinbar feststehenden Wahrheiten des Lebens zu ermöglichen. Keines der
Gedichte verschließt sich, und dennoch offenbaren sie bei jedem erneuten Lesen
ein weiteres Geheimnis.
EIN FOTO
„Vielleicht
ist der Grund
warum ich es so seltsam finde
dass du dieses Foto von
diesem schlafenden Mann
besitzt
der
dass ich der Mann bin
und ich ihn nie schlafen
gesehen habe.“
Die
Idee, das Buch zweisprachig erscheinen zu lassen, ist ein weiteres Geschenk an
die Leser:innen. Auch wenn ich keine einzige Silbe isländisch verstehe,
entdecke ich Wortmalereien, die manches Gedicht in einem Laut, der für ein
bestimmtes Gefühl steht, zusammenzufassen scheinen.