Ragnar Helgi Ólafsson: Ein verregneter Tag
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RAGNAR
HELGI ÓLAFSSON
Aus dem Isländischen von Jón Thor
Gíslason und Wolfgang Schiffer.
(aus: Ljóðbréf Nr. 3 / Poesiebrief Nr. 3, Tunglið forlag, Reykjavík 2021)
EIN
VERREGNETER TAG (nach einer Unterhaltung mit Sjón*)
Der
messingfarbene Griff des Regenschirms von Frau Travers
hat die
Form eines Papageis
Die
glasdünne Tinte in Lorcas Tintenfass
ist eine
Tausendtropfensammlung – himmelblau
Es beginnt
zu regen
als ich
die staubige Straße zu Keats Grab entlang gehe
Es ist
seltsam ein Dichter zu sein. Oft. Als ob man
einer
Gemeinde angehöre die nur ein einziges Mitglied hat und keinen Hirten
Ich habe einen Splitter von Christus
Kreuz berührt.
In Maria Magdalenas Augenhöhlen
geschaut.
Gebetet an dem Stein wo Peter und
Paul
enthauptet wurden.
Nichts
davon glich dem Moment als ich vorsichtig den Regenschirm
mit dem
Papageiengriff schloss und es dem glasdünnen Tintentropfen
erlaubte auf
mein Gesicht zu fallen am Grab dessen
der seinen
Namen ins Wasser schrieb.
-
2019
* Sjón, mit vollem Namen Sigurjón Birgir Sigurðsson, geb. 1962, ist ein isländischer Schriftsteller und Dichter. In deutscher Übersetzung erschien von im zuletzt der Romanzyklus „CoDex“, S. Fischer Verlag, 2020.
Ragnar Helgi Ólafsson, geb. 1971 in Reykjavík / Island,
studierte an der Universität von Island Philosophie, Filmregie an der New York
Film Academy und im Anschluss in Frankreich zunächst Französisch in Marseille
und danach Kunst in Aix en Provence. Nach mehreren Kurzfilmen arbeitet er in
den letzten Jahren vornehmlich als Grafikdesigner und bildender Künstler mit
zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen. Auch als Musiker und
Verleger ist er tätig; er betreibt den Tunglið
Forlag, den Mond Verlag, in dem jährlich
zwischen acht und zwölf Publikationen mit fiktiver Prosa und Lyrik erscheinen.
2013 veröffentlichte er in Island mit Bréf frá Bútan / Briefe aus Bhutan einen ersten eigenen Roman sowie anschließend
eine Sammlung mit Kurzgeschichten, 2015 folgte der erste Gedichtband Til
hughreystingar þeim sem finna sig ekki í samtíma sínum / Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart
nicht finden können (ELIF VERLAG 2017),
für den er mit dem Tómas-Guðmundsson-Poesie-Preis ausgezeichnet wurde, einem
Preis, den die Stadt Reykjavík zum Andenken an den gleichnamigen bekannten
isländischen Schriftsteller und Lyriker (1901 – 1983) alljährlich an
herausragende Werke der isländischen Dichtkunst vergibt. Mit der 2017
erschienenen Story-Sammlung Handbók um minni og gleymsku / Handbuch des Erinnerns und Vergessens ( ELIF VERLAG 2020) war der Autor für
den Isländischen Literaturpreis in der Kategorie Belletristik nominiert. 2018
veröffentlichte er das Ein Requiem
genannte Buch Bókasafn föður
míns / Die Bibliothek meines Vaters; in der Kategorie Sachbuch erfuhr auch dieser Titel eine Nominierung für
den Isländischen Literaturpreis.
Ragnar Helgi Ólafsson wohnt und arbeitet in Reykjavík.