Ragnar Helgi Ólafsson: Drei Gedichte
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Foto: Saga Sigurðardóttir
Ragnar
Helgi Ólafsson
3
Gedichte
Aus dem
Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Anmerkung
zu des Lebens ungewisser Zeit
Das
menschliche Leben beginnt so plötzlich.
Man
erschreckt sich zum Tode, Hallgrímur. *
Zumal das Leben
- wie wir
schon besprochen haben -
ein äußert
allumfassendes Erlebnis ist.
Da gibt es
nichts hinzuzufügen.
Das weißt du natürlich, Hallgrímur.
Das wissen viele von denen, die noch
leben,
sowie die meisten von denen, die tot
sind, aber gelebt haben.
Das Problem ist, dass wir
- die wir uns menschlich nennen –
nicht vorbereitet sind. Noch dazu
sind wir Gewohnheitstiere:
Bleiben wir bei dem, was wir am besten
wissen, Hallgrímur.
Zumal das
Leben nicht der überwiegende
- ich
möchte beinah sagen, der natürliche -
Zustand
des Menschen ist.
Bedenke,
Hallgrímur:
Aus der
Sicht der historischen Geologie
sind wir
eigentlich immer tot.
Hallgrímur
fragt nach der Brille
Vermutlich
begann das Sehvermögen sich um die Zeit der Konfirmation herum zu
verschlechtern;
kurz vor,
während oder nach der Pubertät.
Es ist
schwer zu sagen, wer zuerst da war, das Huhn oder das Ei, siehst du, Hallgrímur.
Und doch
habe ich das Gefühl, sie verläuft in Wellen, die
Hornhautverkrümmung. Der Fokus ist unterschiedlich scharf zwischen den Jahren, zwischen
den Tagen, den Augenblicken. Das Gleiche gilt für trockene Augen: unterschiedlich.
Oft schlimmer, wenn ich vom Schwimmen komme.
Ich habe mal einen Medizinmann aus Chile
getroffen. Er sagte, er
könne mich gegen eine geringe Gebühr (500 Franken) heilen. Schrieb das Rezept auf die Rückseite eines
Untersetzers mit der Aufschrift l'Agneau sur le toit, mit einem weichen,
nicht gespitzten Bleistift und in hübscher Bindeschrift: “Schau lockerer, dann wird es
besser.“
Auf dem
Rückweg von einer Sitzung mit H.P.*
(ein Tag
in September, Mittag)
Ein
molkeweißer Himmel –
eintönig,
das Leben
ein
allumfassendes Erlebnis –
ohne Besonderheiten
–
legt seine
Absichten nicht offen.
* Angesprochen ist
der Dichter und Pfarrer Hallgrímur Pétursson (1614-1674). Die Hallgrímskirkja
in Reykjavík ist nach ihm benannt Sein bekanntestes Werk sind die Passíusálmar
/ Passionspsalmen.
Ragnar Helgi Ólafsson, geb. 1971 in Reykjavík / Island, studierte an der Universität von Island
Philosophie, Filmregie an der New York Film Academy und im Anschluss in
Frankreich zunächst Französisch in Marseille und danach Kunst in Aix en
Provence. Nach mehreren Kurzfilmen arbeitet er in den letzten Jahren
vornehmlich als Grafikdesigner und bildender Künstler mit zahlreichen
nationalen und internationalen Ausstellungen. Auch als Musiker und Verleger ist
er tätig; er betreibt den Tunglið Forlag,
den Mond Verlag, in dem jährlich
zwischen acht und zwölf Publikationen mit fiktiver Prosa und Lyrik erscheinen
sowie die Ljóðbréf, die Poesiebriefe. 2013
veröffentlichte er in Island mit Bréf frá Bútan / Briefe aus Bhutan einen ersten eigenen Roman, 2015 folgte der erste
Gedichtband Til hughreystingar þeim sem finna sig ekki í samtíma sínum / Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart
nicht finden können (ELIF VERLAG 2017),
für den er mit dem Tómas-Guðmundsson-Poesie-Preis ausgezeichnet wurde, einem Preis, den die
Stadt Reykjavík zum Andenken an den gleichnamigen bekannten isländischen
Schriftsteller und Lyriker (1901 – 1983) alljährlich an herausragende Werke der
isländischen Dichtkunst vergibt. Mit der 2017 erschienenen Story-Sammlung Handbók um minni og
gleymsku / Handbuch des Erinnerns und Vergessens ( ELIF VERLAG 2020) war der Autor für den Isländischen
Literaturpreis in der Kategorie Belletristik nominiert. 2018 veröffentlichte er
das Ein Requiem genannte Buch Bókasafn föður míns / Die Bibliothek
meines Vaters; in der
Kategorie Sachbuch erfuhr auch dieser Titel eine Nominierung für den
Isländischen Literaturpreis.
Ragnar Helgi Ólafsson wohnt und arbeitet
in Reykjavík.