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Rachel Bespaloff: Die Ilias

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Jan Kuhlbrodt

Rachel Bespaloff: Die Ilias. Abhandlung. Berlin (Matthes & Seitz) 2019. 180 Seiten. 15,00 Euro.

Bespaloffs Ilias


„Kein Werk […] legt von der Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos beredteres Zeugnis ab als das homerische, der Grundtext der europäischen Zivilisation.“

Das schreiben Horkheimer und Adorno in ihrem – durch entscheidende Mithilfe von Gretel Adorno – aus Gesprächen destillierten Werk: „Die Dialektik der Aufklärung.“ Entstanden ist es 1944 unter dem unmittelbaren Eindruck der Zerstörung Europas durch Faschismus und den von Deutschland angezetteltem Zweiten Weltkrieg. Im Text selbst findet eine Auseinandersetzung mit der abendländischen Vernunft statt, getrieben von der Frage, wie es hatte sein können, dass der Prozess der Aufklärung derart in faschistischen Irrationalismus umschlug.

Ungefähr zu selben Zeit arbeitet im amerikanischen Exil die Autorin Rachel Bespaloff an ihrem Buch „Die Ilias“ das jüngst in der Reihe „Die fröhliche Wissenschaft“ im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist.

Rachel Bespaloff wurde 1895 in Bulgarien in einer ukrainisch-jüdischen Familie geboren und wuchs in Paris auf. Sie war eine der ersten französischen Leserinnen Heideggers und schrieb unter anderem über Kierkegaard, Marcel und Malraux. Außerdem stand sie in Kontakt zu Lew Schestow, zu dem sie in den dreißiger Jahren allerdings auf Distanz ging. 1942 floh sie vor den Deutschen in die USA, wo sie unter anderem Französisch unterrichtete. Im Jahr 1949 starb sie durch Suizid.

Es scheint etwas von der Konversation mit Schestow, der in seinem Werk „Athen und Jerusalem“ über das Verhältnis der doppelten Herkunft des europäischen Denkens nachdenkt, hängen geblieben zu sein, oder es lag ohnehin in der Luft, über derartige Korrespondenzen nachzudenken, denn wir finden den Gedanken ja in einigen Texten, die sich mit der in Auflösung begriffenen europäischen Vernunft befassten, wenn auch nicht in der Prägnanz und Weite formuliert wie bei Schestow und Bespaloff. In seinem Vorwort zur ersten französischen Ausgabe von „Die Ilias“ schreibt Jean Wahl:

„Rachel Bespaloff bietet uns die Gelegenheit, über die großen Figuren der Illias nachzudenken. In diesen schwierigen Zeiten verwundert es kaum, dass das abendländische Denken sich seinen Ursprüngen, Griechenland und Israel, zuwendet, um über Parallelen und Unterschiede nachzudenken.“  

Das letzte Kapitel von Schestows Buch „Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie“ enthält abgetrennt durch Zwischenüberschriften eine Reihe Kurzessays. Unter dem Titel „Spekulation“ schreibt er:

„ … Darum beginnen alle spekulativen Systeme bei der Freiheit und enden bei der Notwendigkeit, wobei sie, da ja die Notwendigkeit allgemein gesprochen keinen guten Ruf genießt, gewöhnlich zu beweisen bemüht sind, dass jene letzte höchste Notwendigkeit, zu der man vermittelst der Spekulation gelangt, sich in nichts von der Freiheit unterscheide, mit anderen Worten, dass vernünftige Freiheit und Notwendigkeit ein und das selbe sei.“

Rachel Bespaloff macht aber noch eine weitere Zeitrechnung auf. Sie sieht die abendländische Literatur in ihrem mythischen Kontext zwischen Homers Ilias und Tolstois „Krieg und Frieden“ platziert. Im Kapitel: Von „Troja nach Moskau“ heißt es:

„Kriege werden ausgefochten, erlitten, verflucht oder besungen; ein Urteil kann man über sie freilich ebenso wenig fällen wie über das Schicksal selbst. Die einzige Antwort auf sie ist Stille – oder besser, die Unmöglichkeit der Worte: der ernüchterte Blick, den der sterbende Hektor auf Achill wirft, und der, mit dem Fürst Andrej das jenseits seines Todes zu ermessen scheint.“

Und hier findet sich auch wieder einer Korrespondenz mir der eingangs zitierten „Dialektik der Aufklärung“. Bespaloff schreibt:

„Die Notwendigkeit, die das Individuum zwingt, seine Vermassung unter Androhung von Versklavung, oder sogar Vernichtung zu ertragen, ohne dass seine Persönlichkeit dabei in der anonymen Masse aufginge, macht diese überhaupt erst kenntlich.“

Beigegeben sind dem Buch darüber hinaus ein großartiger Essay Hermann Brochs in dem er angesichts des Werkes über das Verhältnis von Altersstil und Mythos nachdenkt, und ein aktualisierendes Nachwort von Stefanie Golisch. Darin findet sich folgender Satz, der eine zweite Lektüre des Buches für mich unverzichtbar werden lässt:

„Es leuchtet unmittelbar ein, dass ohne eschatologische Ermutigung des Menschen Gerechtigkeit auf Erden schlechterdings undenkbar ist.“
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