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Þórdís Helgadóttir: Phasenwechsel

Gedichte > Gedichte der Woche
ÞÓRDÍS HELGADÓTTIR

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason
und Wolfgang Schiffer


Für das folgende Gedicht wurde die Autorin Þórdís Helgadóttir mit dem Jón-úr-Vör-Poesiestab 2021 ausgezeichnet, ein in Island angesehener Preis für Lyrik, benannt nach dem bekannten Bibliothekar und Dichter (u. a. der 1946 erschienenen Gedichtsammlung „Das Dorf“) Jón Jónsson alias Jón úr Vör (1917 – 2000).


PHASENWECHSEL


Ich liebe meine Kinder und die Kinder die von meinen Kindern

Geliebt sind und die Kinder die meine Kinder lieben.

Sie attackieren mit den Winterschuhen das Eis, sobald

Der Teich zugefroren ist. Sie lieben es, ihre Kraft spielen zu lassen.

Brechen Splitter aus der Eisdecke und halten sie sich vors

Gesicht. Ich sehe sie vom Fenster aus, dem salzgeleckten

Auge des Hauses. Sie sehen mich durch klares Glas.

Hellgelbes Schimmern und dann wird es dunkel. So ist die Zeit

In Scheiben geschnitten, in weiße und schwarze, die Teilung

nicht brüderlicher als bei anderen guten Dingen.

Der Frost schärft die Unterschiede zwischen den Welten

Und wandelt Lügen in Wahrheiten um. Macht einen Steg aus

Der sogenannten Wasseroberfläche. Wenn falsche Böden

Gift oder Schätze verbergen, was verbirgt dann eine falsche Oberfläche?

Die Kinder, nicht aber ich, vertrauen der porösen Membran

Über der anderen Welt, wo der Atemzug

In die verkehrte Richtung fließt. Zumal sie erst vor kurzem

hindurchgekommen sind, in Kreisen atmeten, während sie tranken,

Eine flüssige Kost aus einer Zuckerbrust. Sie beißen die Kanten ab,

Kauen knirschend Glasbonbons, stolz auf ihre eigene Stärke.

Kinderzähnen fehlen die Nerven für Zahnkälte.

Eine Artischocke blüht im Küchenfenster.

Keiner liebt den Winter so wie meine Kinder.



Þórdís Helgadóttir, geboren 1981 in Reykjavík, studierte Philosophie, Schreiben und Redigieren an der Universität von Island, der Rutgers University in New Jersey und der Universität von Bologna. Neben ihrer Tätigkeit als Texterin und Ideengeberin in einer Werbeagentur veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Gedichte und Essays in verschiedenen Literaturzeitschriften sowie Theaterstücke, die im Stadttheater von Reykjavík aufgeführt wurden. Von 2019 bis 2020 hatte sie hier zudem die Position einer „Dramatikerin in Residence“ inne. Neben anderen Veröffentlichungen erschien 2018 im Verlag Bjartur die Kurzgeschichten-Sammlung „Keisaramörgæsir/Kaiserpinguine“. Für ihr Gedicht „Fasaskipti /Phasenwechsel“ wurde sie 2021 mit dem Jón-úr-Vör-Poesiestab ausgezeichnet, ein in Island angesehener Preis für Lyrik, benannt nach dem bekannten Bibliothekar und Dichter (u. a. der 1946 erschienenen Gedichtsammlung „Das Dorf“) Jón Jónsson alias Jón úr Vör (1917 – 2000.
Þórdís Helgadóttir ist Mitglied des Schriftstellerinnenkollektivs Svikaskáld / Betrügerische Dichterinnen.
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