Þórdís Helgadóttir: Fünf Gedichte
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Þórdís Helgadóttir
Fünf Gedichte
(Aus: TANNTAKA / ZAHNEN, Gedichte, Mál og menning,
Reykjavík 2021)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Zeichen für Wunder
In
diesem Gedicht sind die Zeilen Haare,
das
tote Teil von mir,
ein
Gewicht, das den
Kopf nach hinten zieht
und
die Augen hoch.
Hin
und wieder gibt es Hagelschauer
in
der Karwoche, wenn die Kinder
den
Mund aufmachen, fallen keine
Wörter
heraus, sondern Zähne
und
der Heilige Geist, wann
immer
sie ein Ei oder die
Augen
öffnen und der Schlaf
Zahnschmelz
in Gold verwandelt hat.
Im Leben geht es darum, zunehmend nichts
zu verstehen. Ich brauche einen neuen
Mund,
denn meiner ist ein Saustall, ein Nest
aus
Stille und bleichen Bakterien,
die
stören den reinen Ton.
Die
Auster sucht ein gesalzenes,
saures,
süßes, bitteres und blutiges
Loch
im Gaumen des Kinds.
Spiegelneuronen spielen Geschmacksknospen
und die Zähne spielen Perlen,
doch im Kern geht es um eine Schere,
eine Umarmung scharfer Klingen.
Die
Voraussetzung für eine Person ist ein Messer.
Zwischen
Nacken und Bug,
Haut
und Tuch,
Wald und Hütte.
Um
die Schnur durchzuschneiden,
wenn
der Bauch sinkt
und
wir uns aufrichten wollen,
die
Last abwerfen,
sobald
sie aus dem Kopf schießt.
Ein Anfall
Das
Bluthäutchen platzte
vor Lachen
die unbefleckten Mädchen
erhielten
soeben die Nachricht
als
man die Laken noch einmal eingeweicht hatte
den
Sand ausgekehrt
und
die Gläser vom gestrigen Fest glänzend
in
den Regalen standen
da
habe sich gezeigt dass das Fleckenlose
wohl
unwiderruflich sei
die
Kerle draußen
- diejenigen die noch
lebten
-
beschrieben
es wie Stofffetzen die herunterregnen
nach
einer Explosion
sodass
selbst die Sonne sich im Licht steht
Babuschkas
Neueste
Forschungen in Kosmologie
an
dem Institut das
ich
leite
zeigen
dass
die Zeit im Jahr 1981
begonnen
hat
und
dann nochmal dreißig Jahre später
An
den Urknall
kann
ich mich gut erinnern
das
waren mythische Zeiten
als
die Riesen gingen
und
eine gelbe Erstmilch floss
Lange
bevor Dinosaurier
sich
in Regalen aufstellten
flogen
Elemente
im
Blutkreis
von
uns beiden
unklare
Formen
füllten
deine Augen
Du
warst ein Mund
später
Erinnerung
Deine
Mutter
außerhalb
der Welt
und
um sie herum
Stand des Lebens
Bei
Hochflut
ziehe
ich mir schnell das T-Shirt an
und
umarme den Breiðafjord*
dort
wo die Ursuppe noch köchelt
in
der Gezeitenzone
sie die genügend viele Geburten gesehen hat
weiß dass alles möglich ist;
dass das was einmal aus dem Meer kam
jederzeit darin zurückkehren kann
die Schaumkrone auf der anderen Seite gibt heimlich den
Dachtraufen einen Kuss
Die Venus ist ein Weib in Schwimmschuhen
sie hat ihren festen Wohnsitz nach außerhalb des Landes verlegt
*
Ein extrem breiter Fjord im Westen Islands; er trennt die Region der Westfjorde
von der Halbinsel Snæfellsnes.
Lilith
Die
Zwillingsschwester des Eierbauer bleibt nachts wach. Sie ist frei von
Lampenfieber, obendrein eine erfahrene Autorin, schreibt
Seifenopern
mit
surrealistischem Touch und spannende Erotik-Thriller unter Pseudonym.
Gegen
vier Uhr geht sie auf eine Zigarette raus und trifft die anderen. Sie hängen
in
der Juninacht herum und füllen den Himmel aus - Zwillingsschwestern von allem -
füttern
sich
gegenseitig mit Konfitüre aus kleinen Glaskrügen und lecken das Rot des Morgens aus
den Mundwinkeln.
Dann
auf einmal ist die Hündin verschwunden.
Hatte schon begonnen, alle verrückt zu machen auf dem Brutplatz der
Eiderenten. Man könnte denken, irgendwer habe ihr absichtlich etwas zu fressen
gegeben nach Mitternacht.
Þórdís
Helgadóttir, geboren 1981 in
Reykjavík, studierte Philosophie, Schreiben und Redi-gieren an der Universität
von Island, der Rutgers University in New Jersey und der Universität von
Bologna. Neben ihrer Tätigkeit als Texterin und Ideengeberin in einer
Werbeagentur veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Gedichte und Essays in
verschiedenen Literaturzeitschriften sowie Theaterstücke, die im Stadttheater
von Reykjavík aufgeführt wurden. Von 2019 bis 2020 hatte sie hier zudem die
Position einer „Dramatikerin in Residence“ inne. Neben anderen
Veröffentlichungen erschien 2018 im Verlag Bjartur die Kurzgeschichten-Sammlung
Keisaramörgæsir / Kaiserpinguine. Für ihr Gedicht Fasaskipti / Phasenwechsel
wurde sie 2021 mit dem Jón-úr-Vör-Poesiestab ausgezeichnet, ein in Island
angesehener Preis für Lyrik, benannt nach dem bekannten Bibliothekar und Dichter (u. a. der 1946
erschienenen Gedichtsammlung „Das Dorf“) Jón Jónsson alias Jón úr Vör (1917 –
2000). Dieses Gedicht eröffnet ihren im Herbst 2021 erschienenen Gedichtband Tanntaka
/ Zahnen, aus dem hier weitere Texte vorgestellt sind.
Þórdís
Helgadóttir ist Mitglied des Schriftstellerinnenkollektivs Svikaskáld /
Betrügerische Dichterinnen.