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Þórdís Gísladóttir: Evolutionslehre

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ÞÓRDÍS GÍSLADÓTTIR

Evolutionslehre

(Aus: Ljóðbréf Nr. 4 / Poesiebrief Nr. 4, hrsg. v. Dagur Hjartarson und Ragnar Helgi Ólafsson, Tunglið forlag, Reykjavík 2021)

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


Auf der Welt leben zwei Sorten von Menschen,
diejenigen, die glauben, dass es zwei Sorten von Menschen gibt,
und diejenigen, die es nicht glauben.

Es gibt zwei Sorten;
diejenigen, die andere dafür bezahlen, sich ihre Probleme anzuhören,
und diejenigen, die Geld dafür nehmen, anderen bei ihren Problemen zuzuhören.

Der evolutionäre Trieb, ein Muster im Chaos zu erkennen, ist stark,
er erstickt jedes logische Denken.
Wir tendieren zu Astrologie,
Glückszahlen,
der Klassifizierung von Charakter nach Farben,
Wahrsagerinnen,
Verschwörungstheorien
und berühmten, einflussreichen Menschen, die endlich, nach
dem fünften Versuch, die richtigen Partner gefunden haben.

Auf der Welt gibt es zwei Sorten;
Leute, die an den Autoschalter einer Fastfood-Kette fahren
und Leute mit einem bisschen Selbstwertgefühl.

Ich habe keine Meinung, was das angeht.
Das ist nicht mein Problem.
Wir sollten nicht die Mauern einreißen.

Ich möchte nicht wieder raus in die Wildnis, wo die Bestien der Felder herrschen.
Ich finde es unangenehm, nackt umherzulaufen.

Ich verspüre den Wunsch zu verallgemeinern.
Es gibt zwei Sorten von Menschen;
die Leute, die in der 10. Klasse schön waren,
und diejenigen, die später im Leben zu Gewinnern wurden.

Es gibt zwei Sorten von Menschen;
Leute, die über Dinge reden,
und Leute, die sie erledigen.

Es gibt zwei Sorten von Menschen,
diejenigen, die unhöflich sind zu Leuten in Dienstleistungsberufen,
und diejenigen, die an Bord der Arche gehen dürfen,
wenn die Erde überflutet wird.


Þórdís Gísladóttir, geb. 1965, Schriftstellerin und Übersetzerin, wuchs in Hafnarfjörður auf. Nach ihrem Studium an der Universität von Island und an der Universität Uppsala in Schweden, das sie sowohl mit einem BA als auch mit einem MA und einer Promotion abschloss, arbeitete sie neben ihrer literarischen Tätigkeit u.a. als Literaturkritikerin, unterrichtete und lehrte an Schulen in Island und im Ausland, schrieb Artikel in isländischen und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften, machte Radiosendungen und fungierte als Herausgeberin der Zeitschrift Kinder und Kultur.
     Þórdís Gísladóttir schreibt gleichermaßen für Kinder und Erwachsene und hat in Zusammenarbeit mit Hildur Knútsdóttir auch Lernmaterialien und Bücher für Jugendliche geschrieben. Sie hat auch eine Reihe von Büchern und Theaterstücken übersetzt, die meisten davon aus dem Schwedischen. Ihr erster Gedichtband, Leyndarmál annarra / Geheimnisse der anderen, wurde 2010 mit dem Tómas- Guðmundsson-Poesiepreis ausgezeichnet, einem Preis, den die Stadt Reykjavík zum Andenken an den gleichnamigen bekannten isländischen Schriftsteller und Lyriker (1901 – 1983) alljährlich an herausragende Werke der isländischen Dichtkunst vergibt. Seither veröffentlichte sie mehrere weitere Gedichtbände, von denen Óvissustig / Stufe der Ungewissheit 2016 für den Maístjarnan, den Maistern, in Island die höchste Auszeichnung für Lyrik, nominiert wurde. Im Jahr 2020 erschien ein Sammelband ihrer Lyrik, Ljóð 2010 – 2015 / Gedichte 2010 – 2015.
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